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Protest gegen Netanjahus Justizreform in Tel Aviv.

© Imago/Zuma Wire/Eyal Warshavsky

Israels Parlament entscheidet über Justizreform: Netanjahu nimmt sein Land in Geiselhaft

Israel ist in einer Staatskrise. Die Justizreform zerreißt das Land, die Proteste werden heftiger. Premier Netanjahu hält fest an seinem Projekt. Nun stimmt die Knesset ab.

Ein Kommentar von Christian Böhme

Sie warnen und drohen. Mehr als 10.000 Reservisten der israelischen Streitkräfte wollen ihrem Land nicht mehr als Soldaten dienen, wenn der erste Teil der umstrittenen Justizreform das Parlament passieren sollte.

Auch Piloten der Luftwaffe – sie ist essenziell und existenziell für die Verteidigung des Landes – wollen ihren Kampfjets fernbleiben, wenn die rechts-religiöse Regierung nicht nachgibt. Wann hat es so etwas schon mal in der 75-jährigen Geschichte des jüdischen Staats gegeben!

Nun ist zwar völlig offen, ob die Reservisten wirklich streiken werden, sollte es zum Ernstfall kommen. Doch allein die Ankündigung zeigt, wie gespalten Israel ist, wie sehr das Vertrauen in Benjamin Netanjahu und seine rechtsgerichtete Koalition beschädigt ist. Und dass der Staat eine seiner schwersten Krisen seit seiner Existenz durchmacht.

Protest gegen Netanjahus Politik: Demonstranten in Jerusalem.

© AFP/Hazem Bader

Viele sehen die Demokratie in Gefahr, aus verständlichen Gründen. Nicht wenige sprechen von der Gefahr einer Diktatur, was übertrieben scheint. Aber Fakt ist: Hunderttausende fürchten um die Grundpfeiler ihrer freiheitlichen Gesellschaft. Zu Recht.

Am Montag könnte die Entscheidung fallen

Seit Sonntag debattiert die Knesset, Israels Parlament, über die erste Stufe der Justizreform. Es geht um die sogenannte Angemessenheitsklausel. Sollten die Abgeordneten dieses Kernelement der Justizreform verabschieden, könnten sie dem Obersten Gericht damit die Möglichkeit entziehen, Entscheidungen der Regierung und einzelner Minister als „unangemessen“ einzustufen und so außer Kraft zu setzen.

Ein wichtiges juristisches Korrektiv würde damit entfallen. Eines, das Bestandteil der Gewaltenteilung ist. Sollte die Knesset am Montag dem Vorhaben zustimmen – Israel wäre danach ein anderes Land. Eines, in dem viele Israelinnen und Israelis nicht leben möchten.

Netanjahu musste sich kurz vor der Abstimmung über einen Teil der Justizreform einer Herzoperation unterziehen.

© AFP/Jack Guez

So weit hätte es nicht kommen dürfen. Dafür trägt Netanjahu die Verantwortung. Mit dem fadenscheinigen Argument, die Justiz – namentlich das Oberste Gericht – mische sich zu sehr in politische Entscheidungen ein, will er deren Macht drastisch beschneiden. Nun mag das Rechtswesen zwar einer Reform bedürfen. Doch den Premier treibt nicht das Wohl des Staates um, sondern sein eigenes.

Netanjahu fühlt sich von seinen „linken“ Gegner gejagt

Schon lange ist der 73-Jährige der festen Überzeugung, die gesamte Justiz sei zersetzt von gegnerischen „linken“ Kräften, die regelrecht Jagd auf ihn machten. So erklärt Netanjahu auch, warum er sich wegen Korruption und Bestechung vor Gericht verantworten muss.

Die Justizreform soll ihm letztendlich dazu dienen, dem Verfahren zu entkommen. Auch das beschädigt das Ansehen eines Regierungschefs, der sich an demokratische Spielregeln zu halten hat.

Genau das ist Netanjahus Problem: Sein Handeln hat in den vergangenen Jahren zunehmend autoritäre, ja, autokratische Züge bekommen. Er glaubt, nach Gutsherrenart allein und vor allem am besten zu wissen, was gut und was schlecht für Israel ist. Gemäß dem selbstherrlichen Motto: Der Staat, das bin ich.

Ein Kompromiss gilt derzeit als unwahrscheinlich

Damit legt Netanjahu aber Hand an die Grundpfeiler des Gemeinwesens. Viele Menschen im Land wollen ihm das nicht durchgehen lassen. Das Kippen der Justizreform ist ihnen deshalb ein besonderes Anliegen.

Tausende Reservisten wollen den Dienst verweigern, sollte die Justizreform beschlossen werden.

© Imago/Zuma Wire/Eyal Warshavsky

Nur: Das scheint fast ausgeschlossen, trotz aller Versuche, noch in letzter Minute einen Kompromiss zu finden. Denn das würde bedeuten, Netanjahu könnte die Macht verlieren, an der er so hängt. Es wäre allerdings ein selbstverschuldeter Verlust.

Der Dauer-Ministerpräsident hat sich um des Regierens willen zum Gefangenen rechtsextremer Kräfte gemacht. Sie pochen auf die Umsetzung der Justizreform. Anderenfalls wollen sie das Bündnis aufkündigen. Das nimmt Netanjahu den notwendigen Freiraum, um das in weiten Teilen der Bevölkerung verhasste Projekt einfach zu beenden.

So wird der Montag zu einem entscheidenden Tag in der Geschichte Israels. Welchen Weg schlägt der jüdische Staat ein? Den der Konfrontation zwischen Regierenden und Regierten. Oder einen versöhnlichen, den das Land so dringend braucht.

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