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Angehörige nehmen in der Sporthalle von Crotone Abschied von ihren Angehörigen, darunter 13 Kindern.

© action press/Antonino Durso/LaPresse

Tote Migranten vor Kalabrien: Frontex gegen die Regierung Meloni

Italiens Innenminister hat sich mit zynischen Aussagen über die Toten des Schiffbruchs von Sonntag blamiert. Und bleibt jetzt Antworten schuldig, warum keine geeignete Hilfe kam.

Die Zahl der Toten des Schiffbruchs vor Crotone an der italienischen Südküste steigt von Tag zu Tag: 66 Särge sind inzwischen in der städtischen Sporthalle aufgebahrt. Und mindestens zwei Minister der Regierung von Giorgia Meloni geraten immer stärker unter Druck.

War den womöglich 200 Flüchtlingen auf dem wenig verkehrstüchtigen Kutter tatsächlich nicht zu helfen, weil Samstagnacht Windstärke sechs herrschte? Das ist bisher die Version des Innenministeriums. Die beiden Boote der Guardia di Finanza, der Steuerfahndungs- und Zollpolizei, die nach einer Nachricht der EU-Grenzagentur Frontex gegen 22.30 Uhr ausgelaufen waren, hätten deshalb zurückkehren müssen. Später hieß es zudem, man habe keine Anzeichen einer Notlage feststellen können, außerdem habe auf dem Boot auch niemand um Hilfe gebeten.

Erste Zweifel an dieser Version äußerte bereits am Sonntag ein kalabrischer Arzt und langjähriger Helfer, der im TV-Sender La7 auf vergleichbare Wetterlagen in der Vergangenheit verwies, in denen geholfen wurde. Der Schiffbruch sei „keine Tragödie, sondern das Ergebnis ruchloser Politik“. Auch eine Fachfrau des Roten Kreuzes in Kalabrien verwies später auf frühere Rettungen bei ähnlich schlechtem Wetter. Dem Arzt Orlando Amodeo drohte das Innenministerium noch am Abend mit einer Verleumdungsklage: Man werde „die Ehre“ des Ministers und der beteiligten Behörden durch alle Instanzen verteidigen.

Frontex meldete, doch Hilfe blieb aus

Inzwischen ist allerdings mehr bekannt geworden, das die Sicht der Kritker:innen stützt: Die EU-Grenzschützer gaben wohl entscheidende weitere Details durch, unter anderem den Tiefgang des Boots, aus dem zu schließen war, dass es mit etwa 200 Personen besetzt, folglich überladen war. „Ein kleines überladenes Boot, und das bei einem Seegang, der zwei Militärschiffe zur Rückkehr zwingt, kann nicht anders als in Gefahr sein“, schlussfolgerte die Tageszeitung „il manifesto“.

Dass dennoch Boote der Guardia di Finanza geschickt wurden, lässt darauf schließen, dass von – im Detail noch unbekannter – verantwortlicher Stelle kein Notfall festgestellt wurde, sondern ein „illegaler Grenzübertritt“. Dafür ist die Zollpolizei zuständig, während es für einen Hilfseinsatz die Hafenbehörde von Crotone gewesen wäre, des nächstliegenden Hafens. Die Häfen verfügen anders als die Guardia di Finanza über Motorboote, die als praktisch unsinkbar gelten, bei jedwedem Wellengang.

Lautsprecher Salvini ist plötzlich leise

Warum sie nicht ausliefen, wird demnächst der Minister erklären müssen, der für die Häfen zuständig ist, Verkehrsminister Matteo Salvini, Parteichef der rechtsextremen Lega und früher seinerseits Chef im Innenministerium. Die Zuständigkeit hatte er im vergangenen Herbst mit Zähnen und Klauen gegen das „Meeresministerium“ verteidigt, das Premierministerin Meloni neu erfand und mit einem sizilianischen Parteifreund besetzte.

Ein Mann im Staatsdienst, der auf die italienische Verfassung geschworen hat, gibt den Opfern selbst die Schuld.

Corrado Lorefice, Erzbischof von Palermo

Nun schweigt ausgerechnet Salvini, der Lautsprecher der italienischen Politik und härteste Hardliner in Migrationsfragen, eisern. Die Hafenbehörde hat einen Maulkorb verpasst bekommen und kann daher ihrerseits nicht zur Aufklärung des Geschehens beitragen, in dem es eine große Lücke gibt: Zwischen der Nachricht des Frontex-Hubschraubers und dem Zerschellen des Kutters, dessen Ohrenzeugen um 4.30 Uhr kalabrische Fischer wurden, liegen immerhin sechs Stunden.

Dafür ist sein Ex-Bürochef, der heutige Innenminister Matteo Piantedosi, dabei, sich um Kopf und Kragen zu reden. Mit zynischen Aussagen über das Unglück hatte er schon auf der ersten Pressekonferenz am Sonntag Empörung ausgelöst. Auch „Verzweiflung ist keine Rechtfertigung für eine Reise, die das Leben der eigenen Kinder in Gefahr bringt“, sagte er. Als „ethische Botschaft“ bezeichnete Piantedosi seinen Appell an die Flüchtlinge: „Sie dürfen nicht aufbrechen.“

Er riet ihnen zudem, sich doch einmal zu überlegen, ob sie nicht etwas für ihr Land tun könnten, bevor sie es verließen. Mit seiner Moralpredigt brachte Piantedosi sogar die katholische Kirche gegen sich auf: „Ein Mann im Staatsdienst, der auf die italienische Verfassung geschworen hat, gibt den Opfern selbst die Schuld“, urteilte der Erzbischof von Palermo, Corrado Lorefice.

Auf einmal will der Minister legale Migration ermöglichen

Piantedosi war früher Präfekt in Rom – also einer der hohen Beamten, die die Zentralregierung in allen Ecken des Landes vertreten – und hatte sich als Salvinis geräuschloser Zuarbeiter empfohlen. Er erfand jenes neue Dekret gegen private Seenotrettung, das die NGOs jetzt eher noch effektiver, aber technokratischer behindert. In seiner Mischung aus knallhart und gutbürgerlich galt er bisher als Pfund in Melonis Regierung.

Nun könnte ausgerechnet er zum Problem werden. Und das alte Problem, Salvini, zurück sein. Für wachsende Nervosität im Regierungslager sprach, dass Piantedosi am Dienstag bei einer Befragung im Senat in eine Ausrede flüchtete. Er sei falsch verstanden worden. Er habe doch nur gemeint, die Flüchtlinge sollten nicht selbst auslaufen, „wir kommen, sie zu retten“. Dafür gebe es humanitäre Korridore.

Er sei auch bereit, so Pientedosi, über legale Wege der Einwanderung zu sprechen – die es in Italien bisher nicht gibt. Auch der Landwirtschaftsminister eilte dem Kollegen zur Hilfe. Francesco Lollobrigida, Schwager und Vertrauter von Giorgia Meloni, sprach von einer halben Million Menschen, die Italiens Wirtschaft dringend brauche.

Da würden „Flicken aufgenäht, die schlimmer sind als das Loch“, seufzte bereits ein Kommentator. Ganz sicher stimmt das für die Regierung. Einwanderung zu verhindern, ist ein Kern ihres Programms. Es bleibt unklar, wie sie die Wende erklären will.

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