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Trauernde beten in der Sporthalle von Crotone an den Särgen ihrer Angehörigen.

© Reuters/Remo Casilli

Schiffbruch vor Kalabrien: Wer ist schuld an hundert Toten?

Die Staatsanwaltschaft ermittelt jetzt auch gegen mögliche Verantwortliche für den Tod der Flüchtlinge vor Kalabrien. Marinefachleute beklagen die neuen Befehlsketten.

Bisher widmete sich die Justiz ausschließlich den vier türkischen Fluchthelfern, die in der Nacht auf Sonntag ihr überladenes Boot gegen Kalabriens Klippen steuerten. Mindestens hundert Menschen starben, die meisten aus Afghanistan, dem Iran und Pakistan. Am Samstagmorgen wurden die Leichen zweier weiterer Kinder gefunden. Die gesicherte Zahl der Opfer erhöht sich damit auf 70.

Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft im kalabrischen Crotone aber auch Ermittlungen gegen die möglichen Schuldigen an Land aufgenommen, in Italien, wo die Bootsinsassen vergeblich hofften anzukommen. Immer mehr Details werden bekannt, die darauf schließen lassen, dass dort die Befehlsketten versagten, die in solchen Notfällen sonst in Gang kommen. Oder dass sie sogar außer Kraft gesetzt wurden.

Innenminister Matteo Piantedosi, dessen Aussagen über das Unglück bis ins rechte Lager hinein Empörung ausgelöst haben („Sie dürfen einfach nicht aufbrechen“), hat selbst von einer „Überlagerung von Rettungs- und Grenzschutzeinsätzen“ gesprochen.

Früher galten die Einsätze ausschließlich der Rettung. Jetzt wird das im Sinne der Logiken und Praxis der Polizei umgeformt.

Konteradmiral Vittorio Alessandro, Ex-Sprecher der Hafenbehörden von Italien

Doch nach Aussagen hoher Marineoffiziere ist das nur ein Teil der Wahrheit, es gibt wohl längst eine Hierarchie zwischen beiden: Grenzschutz vor Rettung. „Früher galten die Einsätze ausschließlich der Rettung“, sagt etwa Konteradmiral Vittorio Alessandro.

Hafenchef macht deutlich: Er durfte nicht helfen

Alessandro, jetzt im Ruhestand, war lange Zeit der Sprecher von Italiens Hafenbehörden, den Capitanerie di porto. „Natürlich wurde immer auch die Polizei hinzugezogen, aber für Logistisches und Fragen der öffentlichen Ordnung. Bei der Landung.“

Das habe sich verändert: Über einen längeren Zeitraum, seien „Prozeduren und Praktiken entstanden, die die Rettungsverfahren überlagern und sie im Sinne der Logiken und Praxis der Polizei umformen“, so Alessandro, der von mehreren Medien befragt wurde.

Oft kommen die Einsatzregeln nicht vom Ministerium, dem ich unterstehe, sondern vom Innenministerium.

Vittorio Aloi, Kommandant der für den Unglücksort zuständigen Hafenbehörde von Crotone

Wenige Tage zuvor hatte sein Kollege Vittorio Aloi, Kommandant der für den Unglücksort zuständigen Hafenbehörde von Crotone, sich vor Journalist:innen ähnlich geäußert: „Oft kommen die Einsatzregeln nicht vom Ministerium, dem ich unterstehe, sondern vom Innenministerium.“

Die Hafenbehörden sind Sache des Verkehrs- und Infrastrukturministeriums, an dessen Spitze seit Herbst Matteo Salvini steht, Chef der rechtsextremen und besonders fremdenfeindlichen Lega.

Mitarbeiter des Roten Kreuzes helfen Überlebenden, die nach dem Schiffbruch an einem Strand in der süditalienischen Provinz Crotone angeschwemmt wurden.

© IMAGO/ZUMA Wire/IMAGO/Giuseppe Pipita

Aloi wurde beim Kondolenzbesuch in der Sporthalle von Crotone von den wartenden Medienvertreter:innen abgefangen. Den Hafenbehörden war aus Rom eigentlich Stillschweigen über den Vorfall auferlegt worden. Aloi distanzierte sich auch von der offiziellen Lesart, es habe Windstärke 7 geherrscht: „Wir wissen nur von Stärke 4“, sagte Aloi.

Frontex-Meldung ging an die Zollpolizei

Schon am Tag des Unglücks hatten erfahrene Helfer:innen Vorwürfe erhoben, dass hinter dem Tod so vieler Menschen politischer Wille stehe: Man habe schon bei höherem Seegang viele Menschen gerettet, sagten zwei Freiwillige des Roten Kreuzes aus. Bekannt ist auch, dass die Barken der Hafenbehörden praktisch bei jeder Windstärke auslaufen können.

Das taten sie aber nicht. Die Meldung eines Flugzeugs der EU-Grenzschutzagentur Frontex, die das überladene Boot bereits am vergangenen Samstag gegen 22.30 Uhr vor der Küste gesichtet hatte, ging über die Koordinationsstelle der Mittelmeerüberwachungsmission Themis an deren italienische Ansprechpartnerin, die Zoll- und Steuerfahndung Guardia di Finanza (GdF).

Die GdF ist unter anderem für Grenzschutz an der Küste zuständig. Kopien der Meldung von Frontex erreichten aber auch die operative Zentrale der Küstenwache in Rom. Sie schickte zwei Boote, die aber nach ihren Angaben eben wegen des aufgewühlten Meeres umkehren mussten

Schweigeminute: Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella erwies den Toten von Steccato di Cutro, am Donnerstag die letzte Ehre. Sie sind in der Sporthalle von Crotone aufgebahrt.

© AFP/Quirinale Press Office

Um 4.30 Uhr am Sonntag hörten Fischer den türkischen Kutter zerbrechen. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft werden jetzt die sechs Stunden dazwischen aufklären müssen und die Gründe, warum trotz aufgewühlten Meers kein Notfall ausgerufen wurde.

Meloni: Es war kein Notfall bekannt

Dass das Boot überladen war, wusste man, da Frontex angeblich routinemäßig misst, wie tief Boote, die man sichtet, unter der Wasserlinie fahren. Demnach befanden sich, wie die italienische Nachrichtenagentur Ansa unter Berufung auf Frontex berichtete, etwa 200 Personen an Bord. 80 von ihnen konnten sich an Land retten.

Die Regierung spricht bisher zwar von einer schrecklichen Tragödie, lehnt aber jede Verantwortung ab. Aus dem offiziellen Rom hat bisher nur Staatspräsident Sergio Mattarella einen Kondolenzbesuch in Crotone gemacht, wo die mittlerweile 70 Särge aufgebahrt sind.

Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, derzeit in Abu Dhabi, übernahm am Samstag die Sprachregelung ihrer Minister: „Von Frontex gab es keinerlei Notfallmeldung.“ Ob man denn wirklich glaube, ihre Regierung habe den Tod so vieler Menschen gewollt? Davon sind jene NGOs überzeugt, die für Samstag in Mailand zu einer Demonstration aufgerufen hatten.

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