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Spielsteine bilden den Schriftzug Wort des Jahres und das Wort Zeitenwende / action press

© action press / Christian Ohde

Was „Worte des Jahres“ über ihre Nationen sagen: Deutschlands Zeitenwende ist Bulgariens Inflation

Viele Länder küren ein „Wort des Jahres“, oft aus dem Bereich realpolitischer Tristesse. Da ist das Scholz-Wort von 27. Februar eine fast schon frivole Ausnahme.

Eine Glosse von Ariane Bemmer

Was auch immer am Ende die Bilanz von Bundeskanzler Olaf Scholz sein wird, eins kann ihm keiner mehr nehmen: Er hat das Wort des Jahres 2022 in die Welt gebracht, als er in seiner Post-Kriegsbeginn-Rede im Bundestag „Zeitenwende“ sagte.

Zeitenwende, vier Silben, die prädestiniert sind, sich – wie bereits Kindergarten – auch in den Vokabularien anderer Länder festzusetzen. In Frankreich hört man sie schon: Sei-tön-wön-dä. Auch die „New York Times“ druckte sie mehrfach. Und die Zitierformen dürften nach der Adelung als Jahreswort weiter zunehmen – und das zurecht, dazu später mehr.

Wie die Sprachlern-App Duolingo zu berichten weiß, hat sich die deutsche Jahreswort-Tradition längst über den Globus verbreitet. Japan, Bulgarien, Österreich, Schweiz, die USA, Finnland, Südafrika, alle möglichen Länder küren heutzutage Worte des Jahres.

Und was für welche, verrät die App auch: Bulgarien und Österreich haben sich demnach beide für „Inflation“ entschieden, sozusagen ein verbaler Verbrüderungsakt.

„Strommangellage“, „Load Shedding“

Die deutschsprachige Schweiz wählte die „Strommangellage“ und Südafrika den Begriff „Load Shedding“, der fürs Herunterfahren von Stromnetzleistung zur Systemkollaps vermeidung steht.

Die drei Sieger sind so deprimierend realpolitisch, dass die deutsche „Zeitenwende“ fast schon ein wenig unernst, ja frivol wirkt. Zumal sie letztlich, ihrem semantischen Gehalt zum Trotz, im Alltag nicht wirklich angekommen ist.

Energie gibt’s schon, aber Strom ist in Südafrika keine Selbstverständlichkeit.

© Reuters

Eher ist die „Zeitenwende“ seit ihrer Bundestagspremiere auf ein Synonym für pompöse In-Aussichtstellung-ohne-Liefergarantie geschrumpft, quasi Nebelkerzen-Wumms. So gesehen könnte man ihre Prämierung als Wort des Jahres auch für ironisch bis geradezu subversiv halten.

Finnland kürte einen schwedischen Anglizismus

Und damit wäre die hiesige Jury nicht allein auf weiter Flur. Aus Finnland wird berichtet, dass die Gesellschaft der „Hüter der finnischen Sprache” online über zehn Begriffe abstimmen ließ, die eine Brücke zum Schwedischen herstellen, was für finnische Sprachhüter ja schon lustig genug ist.

Und dann hat auch noch das Verb „swishata“ gewonnen, was auf dem englischen „swish“ beruht, und das ist der Name einer Geldversand-App, die von Schweden entwickelt wurde. Unfinnischer geht es also kaum. Aber die Finnen hatten es ja auch nicht leicht im zu Ende gehenden Jahr.

Am Ende gibt die globale „Wort des Jahres“-Auswahl dann doch noch einen Hinweis auf die Nähe zwischen Deutschland und den USA. Dort wurde „Gaslighting“ gekürt, ein Begriff für eine Form von Manipulation, die andere so massiv verunsichert, dass die ihre eigene Wahrnehmung in Frage stellen.

Was genau betrachtet nicht weniger ist als die Fortsetzung der nicht eingelösten, aber mit aufgestampftem Fuß weiterpromoteten Zeitenwende. Was für ein Kindergarten?

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