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Dokument des Scheiterns: Caspar David Friedrichs Gemälde „Das Eismeer“ (1823/24), heute in der Hamburger Kunsthalle zu sehen.

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Kunsthistoriker über Caspar David Friedrich: „Dass er melancholisch und depressiv war, ist gar keine Frage“

Mal hielt man ihn für tief religiös, mal für einen Revoluzzer: Caspar David Friedrichs Bilder verlangen nach Deutung. Sein Biograph Werner Busch erklärt, warum sie uns bis heute in den Bann ziehen.

Herr Busch, Caspar David Friedrichs 250. Geburtstag im nächsten Jahr wird mit Ausstellungen unter anderem in Hamburg, Dresden und Berlin gefeiert. Erste Bücher, darunter Ihres, erscheinen bereits jetzt. Warum fasziniert uns dieser Maler bis heute?
Weil Friedrich nicht unmittelbar greifbar ist in dem, was er macht, lässt er zu, dass man alles Mögliche auf seine Bilder projiziert. Allerdings war er unmittelbar nach seinem Tod vollständig vergessen, und zwar für 60 Jahre. Erst mit der sogenannten Jahrhundertausstellung 1906 in Berlin ist er wiederentdeckt worden. Da wurden plötzlich 40 Gemälde von ihm gezeigt, und seitdem gibt es eine Renaissance nach der anderen.

Hat das Interesse damit zu tun, dass seine stillen, handlungsarmen Bilder rätselhaft wirken?
Wenn man vor ihnen steht, merkt man, dass man sie nur rezipieren kann, indem man sich auf sie einlässt und sich dafür Zeit nimmt. Das ist ganz strategisch von Friedrich so angelegt. Aber es gibt keine Lösung. Jahrzehntelang war die Forschung überzeugt, alle Bilder seien plan religiös, man müsse sie nur geradezu zeichenhaft aufdröseln. Inzwischen ist klar, dass das nicht funktioniert. Es sind zwar religiöse Dinge auf den Gemälden zu sehen, aber Friedrich hat nie biblische Illustrationen geschaffen, anders als zeitgleich die Nazarener.

Die konnte Friedrich nicht leiden, ihre Art von Historismus gefiel ihm überhaupt nicht. Er hat immer dafür plädiert, dass Kunst zeitgenössisch sein muss, gegenwärtig. Das hat er von dem Theologen und Philosophen Friedrich Schleiermacher gelernt, mit dem er gut bekannt war. Friedrich ging es um zwei Dinge, Anschauung und Gefühl. Anschauung ist das Sich-in-die-Bilder-Vertiefen. Und das Resultat ist eine Antwort des Bildes: Es löst in uns eine Art von Gefühl aus, ohne dass wir ganz genau sagen können, worum es sich eigentlich handelt.

Friedrich zeigt Figuren in altdeutscher Tracht: langer Rock, weite Hose, Barett. Aufrührerische Studenten kleideten sich so, in Preußen war diese Kleidung ab 1819 verboten. War der Maler ein Revoluzzer?
1968 wurde er so vereinnahmt. Die Bildzeichen, die vorher religiös verstanden wurden, haben die Achtundsechziger politisch umgedeutet. Ich war immer der Meinung, dass diese Gegenüberstellung falsch ist. Auch das Politische ist bei Friedrich religiös überwölbt. Aber er war ein Anhänger der Befreiungskriege. Einem Malerfreund, Georg Friedrich Kersting, hat er sogar bei der Finanzierung der Ausrüstung geholfen. Obwohl er wenig Geld besaß.

Mittelalterliche Ruinenromantik: Friedrichs „Abtei im Eichwald“ (1809), Alte Nationalgalerie Berlin.
Mittelalterliche Ruinenromantik: Friedrichs „Abtei im Eichwald“ (1809), Alte Nationalgalerie Berlin.

© Wikipedia

Auf Friedrichs Bildern gibt es mittelalterliche Kirchen, malerisch verfallen. Lautet die Botschaft: Deutschland muss wieder eine starke Nation werden?
Nein. Friedrich hat an einer Stelle angemerkt, dass Kirchen im Grunde genommen nicht nötig seien. Religiosität könne man in Auseinandersetzung mit einer anderen Person, einem Mittler am besten erfahren. Die zerfallenen Kirchen auf seinen Bildern sind eine Erinnerung an vergangene Religiosität, die aber in seiner Gegenwart nicht mehr unhinterfragt gilt.

Er ist von der Herkunft her sicher ein Lutheraner gewesen, aber mit deutlichen pietistischen Einschlägen. Das einzige Zeichen, das für ihn zählte, war das Kreuz. Das hat er oft abgebildet, auch auf dem Gemälde „Kreuz an der Ostsee”, mit dem ich mich in meinem Buch befasst habe.

Da schlagen Sie eine neue Deutung Friedrichs vor, unter dem Stichwort „Romantisches Kalkül”. Mit der Romantik verbindet man eher Gefühl als Vernunft. Ein Missverständnis?
Friedrich hat sich sehr mit romantischer Mathematik auseinandergesetzt. In der Mathematik seiner Zeit steht Kalkül für eine Gruppe von Regeln, die über sich hinausweisen. Darum ging es Friedrich. Nicht im Sinne eines Zeichens, das eine bestimmte Bedeutung hat, sondern als ästhetisches Programm des Bildes. Am wichtigsten für ihn waren Novalis’ mathematische Fragmente.

Exakte Konstruktion: Friedrichs „Kreuz an der Ostsee“ (1815).
Exakte Konstruktion: Friedrichs „Kreuz an der Ostsee“ (1815).

© Wikipedia

Sie haben das Bild, das einem Hamburger Kunsthändler gehört, ausgemessen, und festgestellt, dass sich das Kreuz millimetergenau in der Mittelachse befindet. Warum sind solche Konstruktionsprinzipen wichtig zum Verständnis von Friedrichs Kunst?
Die Mittelachse betont Friedrich auf vielen Bildern. Die klassische Kunst hat das grundsätzlich abgelehnt, denn es fixiert uns ja vor dem in der Mitte präsentierten Gegenstand. Wenn dann dort auch noch eine Rückenfigur zu sehen ist, sind wir aufgefordert, in ihr so etwas wie unseren Stellvertreter zu sehen und uns auf das, was er sieht, einzulassen.

Ich durfte eine Reihe von Bildern aus dem Rahmen nehmen, um zu sehen, ob am Rande Markierungen sind. Und ja – da sind gelegentlich Zeichen, die genau angeben, was Friedrich vorher geplant hat: Genau hier muss die Mittelachse verlaufen.

In vielen Bildern versucht er, das Unendliche aufscheinen zu lassen. 

Kunsthistoriker Werner Busch

Solche Kreuze gab es an vielen Stellen der Ostsee, sie dienten Seefahrern zur Orientierung. Welche Bedeutung hatten sie für Friedrich?
Im Hintergrund sieht man zwei kleine Segelschiffe, und am Felsen, auf dem das Kreuz steht, liegen ein Anker, Taue und Stangen, die man benutzt hat, um die Wassertiefe zu messen. Solche oft übersehenen nautischen Details gibt es auf vielen von Friedrichs Gemälden. Das Kreuz verweist auf den Satz, den Christus im Matthäus-Evangelium an Petrus richtet: „Du bist der Fels, auf dem ich meine Kirche bauen werde.”

Den Anstoß, das Bild zu malen, dürfte Friedrich aber von Zacharias Werners Trauerspiel „Das Kreuz an der Ostsee” bekommen haben. Ein Text der mystischen Frühromantik, den Friedrich gelesen hat. Es gibt von ihm eine Sepia-Zeichnung dazu. E.T.A. Hoffmann hat das Stück später vertont. Doch eine bloße Herleitung von Motiven kann Friedrichs Bilder nicht erschließen. Sie stehen und wirken für sich.

Sie beschäftigen sich seit mehr als einem halben Jahrhundert mit Caspar David Friedrich. Haben Sie ein Lieblingsbild von ihm?
Die „Frau am Meer”, heute im Museum Oskar Reinhart in Winterthur. Um 1818 hat Friedrich eine Fülle solcher kleiner Bilder gemalt. Er hatte geheiratet, was alle Leute verwunderte, weil er ein Einzelgänger und auch schon Mitte 40 war. Mit seiner jungen Frau hat er eine Hochzeitsreise zu seinen Verwandten nach Greifswald und nach Rügen unternommen. Dort hat er seine 19 Jahre jüngere Frau Caroline im roten Kleid gemalt. Es war eine kurze Phase von Glück und Zufriedenheit in seinem Leben.

Zeugnis einer glücklichen Zeit: Friedrichs „Frau am Meer“ (1818), Museum Oskar Reinhart, Winterthur.
Zeugnis einer glücklichen Zeit: Friedrichs „Frau am Meer“ (1818), Museum Oskar Reinhart, Winterthur.

© Museum Oskar Reinhart

Ich hätte eher auf den „Mönch am Meer” getippt, den Sie in Ihrer Friedrich-Biographie als „Anti-Faust” charakterisieren. Warum?
Es ist Friedrichs erstes Bild mit einer Rückenfigur. Ursprünglich war das Vorbild für den Mönch der Faust aus der „Osterspaziergangs”-Illustration von Moritz Retzsch, einem Kollegen Friedrichs an der Dresdener Akademie. Faust steht mit seinem Adlatus Wagner auf einem Hügel und schaut – wie es bei Goethe heißt – aufs Meer. Die Sonne geht unter, und es nähert sich der berühmte Pudel. Anschließend kommt es zum Vertrag zwischen Faust und dem Teufel.

Wenn man ganz nah rangeht an Friedrichs Gemälde, kann man sehen, dass die Füße des Mönches unter dem Gewand zu uns weisen, während der Oberkörper zum Wasser gedreht ist. Das ist eine Haltung, die anatomisch gar nicht geht. Friedrich hat den Oberkörper übermalt und den Unterkörper einfach so gelassen. Die Figur hat die Hand ans Kinn gelegt und blickt nachsinnend und melancholisch aufs Meer. Der kantige Schädel des Mönchs spricht dafür, dass Friedrich damit sich selbst gemeint hat. Es gibt einen Text von ihm zum Gemälde, da sagt Friedrich, dass man sich nicht eitel überheben soll. Genau das tut Faust in Goethes Drama. Insofern ist der Mönch eine Art Anti-Faust.

Ein Anti-Faust als Selbstporträt: Friedrichs „Mönch am Meer“ (1810), Alte Nationalgalerie Berlin.
Ein Anti-Faust als Selbstporträt: Friedrichs „Mönch am Meer“ (1810), Alte Nationalgalerie Berlin.

© Wikipedia

Heinrich von Kleist schrieb in einem Text über den „Mönch” von einer Erfahrung, „als seien einem die Augenlider weggeschnitten”. Was meint er damit?
Kleist versucht, das Gemälde mit Schillers Kategorie des Erhabenen zu deuten. Damit hat Friedrich aber absolut nichts zu tun, das ist eine Projektion von Kleist. Wobei die „weggeschnitten Lider” natürlich eine tolle Metapher sind.

Damit reagiert er auf ein oft übersehenes Phänomen des Bildes, das zu den Seiten hin offen ist. Normalerweise sind Gemälde innerbildlich gerahmt, etwa mit Bäumen oder Felsen am Rand. Bei Friedrich ist das Bild auf eine gewisse Weise unbegrenzt. Das nicht Beschränkte ist für ihn besonders wichtig. In vielen Bildern versucht er auf diese Weise, das Unendliche aufscheinen zu lassen.

Friedrich zeigt ein Scheitern, aber mit dem Goldenen Schnitt gibt er ihm eine positive Auflösung durch eine ästhetische Form.

Werner Busch über das Gemälde „Das Eismeer“

Als Kind brach Friedrich im Eis ein. Er wurde von seinem älteren Bruder Johann Christoffer gerettet, der dabei starb. Hat er dieses Trauma verarbeitet, als er 1823/24 sein berühmtes Gemälde „Das Eismeer” malte?
Schwer zu sagen. In diesen Eisberg eingeschlossen ist ein gescheitertes Schiff, eine vom Eis zerquetschte Ruine. Solche gigantischen Eisberge hat Friedrich nie gesehen. Er träumte von einer Nordland-Reise, zu der es nicht kam. Aber wir befinden uns am Beginn des 19. Jahrhunderts in dem, was man eine „verschobene Eiszeit” genannt hat.

Es gab eiskalte Winter, und die Elbe war häufig zugefroren. Wenn sie auftaute, stauten sich die Eisschollen und türmten sich auf. Kleine Studien von Friedrich zu Eisschollen haben sich erhalten. Das große, heute in der Hamburger Kunsthalle hängende Gemälde „Das Eismeer“ hat er nach seinen absoluten mathematischen Prinzipien aufgebaut. Die Spitze des Eisberges liegt millimetergenau auf der rechten Senkrechten des Goldenen Schnitts.

Das müssen Sie erklären.
Der Goldene Schnitt ergibt sich daraus, dass eine Linie geteilt wird. Und die gesamte Linie verhält sich zum größeren Teil, wie der größere zum kleineren Teil. Dieses Prinzip, das auf den griechischen Mathematiker Euklid zurückgeht, hat Friedrich in vielen Gemälden angewandt.

Melancholiker mit auffallendem Vollbart: Selbstbildnis von Friedrich (um 1810), schwarze Kreide auf Velin, Kupferstichkabinett Berlin.
Melancholiker mit auffallendem Vollbart: Selbstbildnis von Friedrich (um 1810), schwarze Kreide auf Velin, Kupferstichkabinett Berlin.

© Wikipedia

Was bedeutet das für das „Eismeer”?
Friedrich zeigt ein Scheitern, aber mit dem Goldenen Schnitt gibt er ihm eine positive Auflösung durch eine ästhetische Form. Auch wenn der Goldene Schnitt dem Betrachter nicht bewusst sein mag, wird er als ästhetisch angenehm empfunden.

Friedrich neigte zur Melancholie. In jungen Jahren unternahm er einen Selbstmordversuch. Sie vermuten, dass er sich einen Vollbart wachsen ließ, um die Spuren zu verbergen.
Er hat versucht, sich zu erhängen. Der Bart verdeckte, wie man sagte, die Spuren der Schlinge.

Ist das eine Vermutung oder gibt es dafür Belege?
Dass er melancholisch und depressiv war, ist gar keine Frage. Und klar ist auch, dass dieses Ereignis des Selbstmordversuchs in ihm fortwirkte. Seine religiöse Grundüberzeugung war, dass nur im Durchgang durch den Tod eine Hoffnung auf das ewige Leben zu erlangen sei. Diese Ansicht hat er auch in Gedichten geäußert. Das ist ganz protestantisch gedacht: Auf Erden haben wir keinerlei Sicherheit, erlöst zu werden. Wir können allenfalls hoffen. Wir wissen nicht, was mit uns passiert. Das schließt an Schleiermachers Reden über Religion an, die 1799 publiziert wurden und die Friedrich offenbar sehr früh rezipiert hat.

War Friedrich am Ende seines Lebens verbittert?
Ja, ganz eindeutig. Er starb 1840. Aus den Dreißigerjahren gibt es einen großen Text von Friedrich, wo er über viele, viele Seiten zur zeitgenössischen Kunst Stellung nimmt: eine zum Teil radikale Verdammung. Eingestreut sind immer wieder Bemerkungen zu seiner eigenen Kunst, ohne dass er allerdings seinen Namen nennt. Der Text wird in Dresden aufbewahrt und zum Friedrich-Jahr 2024 neu ediert. Man hat eine Fülle von Anspielungen entschlüsseln können, Namen von Künstlern, die er verreißt, von den Nazarenern bis zu Joseph Anton Koch, dem Klassizisten, mit dem er auch nichts anfangen konnte.

Eines von Friedrichs bekanntesten Bildern mögen Sie nicht: den „Wanderer über dem Nebelmeer”. Was missfällt Ihnen daran?
Es ist mir zu pathetisch. Der „Wanderer” ist die größte Figur, die Friedrich je gemalt hat. Ich kann dieses Bild für mich nur rechtfertigen, weil es sich offenbar um ein Auftragswerk handelt, ein Gedenkbild für einen Verstorbenen. Es zeigt den Mann mehr oder weniger so, als tauche er vor Gottes Thron auf. Bei meiner Arbeit am „Romanischen Kalkül” habe ich eine, wie ich glaube, wichtige Beobachtung gemacht. Wenn man die Diagonalen des Bildes einzeichnet, kreuzen sie sich im Nabel des Gezeigten.

Proportionen wie bei Leonardo da Vinci. Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ (um 1818), Hamburger Kunsthalle.
Proportionen wie bei Leonardo da Vinci. Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ (um 1818), Hamburger Kunsthalle.

© Wikipedia

Ein Proportionsideal, das auf Leonardos Zeichnung des „Vitruvianischen Menschen” zurückgeht. Wir werden versuchen, das in der Dresdener Ausstellung zu veranschaulichen. Es gab in Dresden zu Friedrichs Zeiten zwei Bibliotheken, die der Akademie und die königliche. In beiden wurden Bücher aufbewahrt, die Leonardos „homo ad quadratum” zeigen. Friedrich kann sie dort studiert haben. Aber er macht, wie immer, etwas sehr Eigenes daraus.

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