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Unterwegs bleiben. Kevin Morby, 1988 in Texas geboren, wuchs in Kansas City auf und lebte in Los Angeles. 

© Dead Oceans Records

Kevin Morby in Berlin: Tanz der Schmetterlinge

Songs können wie Vögel sein: Wirft man sie hoch, beginnen sie zu fliegen. Kevin Morby präsentiert im Berliner Columbia Theater sein meisterhaftes Album „This Is A Photograph“.

Memphis, Tennessee gehört zu den mythischen Orten der Musikgeschichte. Dort nahmen Elvis Presley, Johnny Cash und Carl Perkins im doppelgaragenkleinen Sun Studio ihre ersten Platten auf. Im Stax Studio, untergebracht in einem ehemaligen Kino in der McLemore Avenue, begannen die Karrieren von Soulstars wie Otis Redding, Carla Thomas und Isaac Hayes. Nicht weit davon entfernt, an der legendären Musik- und Rotlichtmeile Beale Street, betrieb der Bluesgitarrist B.B. King bis zu seinem Tod 2015 einen Club.

Eines der schönsten Alben, die in der letzten Zeit in Memphis entstanden, ist „This Is a Photograph“ von Kevin Morby. Der Singer/Songwriter aus Kansas City hatte sich im Oktober 2020 dort für drei Wochen in ein Hotel zurückgezogen und die meisten Songs der Platte geschrieben. „Als der Lockdown begann, wollte ich an den dunkelsten Ort gehen, der möglich war“, erzählte er später der „New York Times“. Morby hat einen Hang zum Morbiden, in Memphis interessierte er sich besonders für das Schicksal des von ihm bewunderten Sängers Jeff Buckley, der dort 1997 im Mississippi ertrunken war.

„A Coat Of Butterflies“ heißt das Requiem, das Morby Buckley gewidmet hat. Es wird zum Höhepunkt des Konzerts, das Morby am Mittwochabend – dem längsten Tag des Jahres – mit seiner fünfköpfigen Band im ausverkauften Berliner Columbia Theater gegeben hat.

Zum pluckernden Schlagzeug und verhaltenen E-Gitarren-Akkorden singt Morby flüsternd: „I heard the mighty Mississippi / Took you out with just one punch.“ Bevor er starb, hatte sich Buckley für einen Job als Schmetterlingspfleger im Zoo von Memphis beworben. Ein Mantel aus Schmetterlingen als Totenkleid, das ist pure Poesie. Buckleys Leiche wurde unweit der Beale Street an Land gespült.

Morby spricht ihn mit „Du“ an, erinnert an Buckleys Version von Leonard Cohens Gospelsong „Hallelujah“, die erfolgreicher war als das Original. Ein melancholisch säuselndes Saxofon setzt ein, und Morby singt von seinen Kindheitstäumen: „When I was young, love drunk, and dreaming / I’d dream of singing in some kingdom / And just like birds, my words would fly.“ Lieder sind wie Vögel oder Schmetterlinge. Wirft man sie hoch, beginnen sie zu fliegen.

Das Konzert beginnt mit „This Is A Photograph“ und endet mit „This Is A Photograph II“. Auf sein autofiktionales Meisterwerk „This Is A Photograph“ (2022) ließ Morby in diesem Mai die Fortsetzung „More Photographs (A Continuum)“ folgen. Als sein Vater gestorben war, hatte der Musiker alte Fotoalben gesichtet und sich mit der Frage beschäftigt: Was bleibt?

Live klingt „This Is A Photograph“ härter als auf der Platte und ziemlich funky. „This is what I’ll miss about being alive“, ruft Morby ins frenetisch jubelnde und tanzende Publikum. Fotos sind für ihn „A window to the past“, Fenster in die Vergangenheit, Einstiegsluken zu verborgenen Erinnerungen und Emotionen.

Hobo und Romantiker

Morby, der in Texas geboren wurde und in Los Angeles gelebt hat, kultiviert das Hobo-Image eines reisenden Romantikers. Er trägt eine schwarze Jacke mit Western-Fransen, wie sie auch zu seinem Idol Bob Dylan in dessen „Nashville Skyline“-Phase gepasst hätte. An seinen Mikrofonständer sind rote und weiße Rosen geflochten, die Morby später in die Menge werfen wird.

Auf seinen frühen Alben klang Kevin Morby noch etwas epigonenhaft, spätestens mit „This Is A Photograph“ hat er seine Souveränität bewiesen. In seine Lieder ist all die Musik eingeflossen, die von Memphis aus die Welt eroberte. Die Liebesabschiedsballade „Bittersweet, TN“ beginnt mit Countrygitarren. „Rock Bottom“ zitiert Rockabilly-Wut, „Stop Before I Cry“ orchestralen Soul-Schmelz.

Auf die Zugaben „Beautiful Strangers“ und „Harlem River“ folgt als Rausschmeißer „Sweet Caroline“ vom großen Neil Diamond. Zeilen zum Mitgröhlen: „Sweet Caroline / Good times never seemed so good“. Draußen vor der Halle ist der Himmel um 22.30 Uhr noch nicht ganz dunkel.

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