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Peter Gabriel

© Nadav Kander

Nach über 20 Jahren Arbeit: Peter Gabriels neues Album „i/o“ ist ein Gesamtkunstwerk

Über zwanzig Jahre hat der ehemalige Genesis-Musiker an seinem neuen Album gearbeitet. Bei aller Perfektion: Es ist ein sehr schönes Album geworden.

Aus den metallisch schnarrenden, leicht flamencohaften Tönen einer E-Gitarre, aus dem dazukommenden, entfernterem Chor-Gewisper und zusätzlichen elektronischen Störgeräuschen erhebt sich eine Stimme, die anfangs mehr murmelt als singt. Von Rauchwolken am Himmel erzählt diese Stimme und von Handys, die alles fotografieren. Später erwähnt sie Berlin, wo man „alle Beweise“ gefunden habe.

Der Refrain mit seinen beschleunigenden Akustikgitarren-Akkorden ist dann purer, groß geschriebener Rock’n’Roll: „Panopticom, let’s find out what’s going on / Panopticom, let’s see where clues are leading.“ Lasst uns herausfinden, was los ist, wohin die Hinweise führen.

Die heisere, fast schwerelose Stimme in diesem Song mit dem Titel „Panopticum“ gehört unverkennbar dem Popmusiker Peter Gabriel. Man hat sie noch aus seinen Achtzigerjahre-Hits wie „Sledgehammer“ oder – in diesem Stück im Duett mit Kate Bush – „Don’t Give Up“ im Ohr. Mit „Panopticom“ beginnt Gabriels zehntes Studioalbum „i/o“, das an diesem ersten Dezembertag des Jahres 2023 herauskommt.

Es ist dies ein Comeback-Album, das erste, auf dem Peter Gabriel lange 21 Jahre nach seinem Album „Up“ von 2002 neues Originalmaterial präsentiert. Selbst die Rolling Stones waren schneller. Sie brauchten schlanke 18 Jahre, bis sie in diesem Herbst mit „Hackney Diamonds“ ein neues Album mit Eigenkompositionen veröffentlichten.

„Panopticom“ wirkt wie eine musikalische Schnitzeljagd mit Anspielungen auf George Orwell und den Kalten Krieg. Der Titel bezieht sich auf das Panopticon, das der britische Philosoph Jeremy Bentham im 18. Jahrhundert entwickelt hat, eine kreisförmige Architektur, die die gleichzeitige Überwachung vieler Gefangener oder Fabrikarbeiter durch einen Aufseher ermöglichte. Michel Foucault sah darin die Verkörperung moderner Disziplinargesellschaften.

Musikalische Schnitzeljagd

Wenn Gabriel nun fordert „See through the barriers, we can see through all these lies“, dann will er Benthams Prinzip mit seinen eigenen Mitteln schlagen: Die Lügen sollen von den Menschen durchschaut, die Überwacher überwacht werden. „Wenn man dieses Modell umdreht, wird Big Brother zu Little Sister“, sagt Gabriel im Begleittext zum Album. Eine Selbstermächtigungshymne, eine soziale Vision. Der langjährige Wegbegleiter Brian Eno spielt gespenstische Synthesizersounds dazu.

Der Albumtitel „i/o“ steht für „Input/Output“. Es geht dem Utopisten Gabriel darum, dass der Mensch nur im Plural vorstellbar ist, ohne ständigen Austausch mit anderen würde er untergehen. „Wir sind wie Atompakete“, erklärt er. „Aber wir denken, dass wir unabhängig und isoliert sind, kleine schwimmende Inseln.“

Das Titelstück, ein Höhepunkt des Albums, schwingt sich von einer intimen Klavierballade zur stadiontauglichen Rockhymne auf. Und Gabriel wiederholt mantraartig: „Stuff coming out, stuff going in I’m just a part of everything.“ Das klingt gleichermaßen buddhistisch wie pantheistisch.

Nicht nur mit seinem Hund und dem Vogel, dessen Gesang er mitpfeift, fühlt Peter Gabriel sich verbunden, sondern – so seine Liedzeilen – auch mit „den Saugnäpfen des Oktopusses, dem Flügel des Bussards, dem Elefantenrüssel und dem Stachel der summenden Biene“. Könnte Öko-Opportunismus sein oder eine eigene Spielart des gerade in der Literatur modischen Nature Writings. Aber Peter Gabriel, 1950 in der südenglischen Grafschaft Surrey geboren, war schon immer so.

Klavierballade, Rockhymne

Als Frontmann der Band Genesis, die er mit Schulfreunden wie dem Keyboarder Tony Banks und dem Bassisten Mike Rutherford gründete, zeigte er sich gerne im Blumen-Kostüm oder mit Fuchsmaske. Selbst in der Blüte des Glamrock war das exzentrisch. Und den Protagonisten des meisterlichen, 1974 veröffentlichten Genesis-Doppelalbums „The Lamb Lies Down on Broadway“ ließ er durch ein albtraumhaftes New York irren und dabei einem Lamm folgen.

Mit seiner überschießenden Fantasie prägte Peter Gabriel die Progrock-Phase der Band. Nachdem er sie 1975 in einem Zerwürfnis verließ und der Schlagzeuger Phil Collins zum neuen Sänger und zur Führungsfigur aufstieg, wurde die Musik von Genesis mainstreamiger. Gabriel dagegen experimentierte, wie es ihm beliebte, ohne sich dem Pop oder den Charts zu verschließen.

Die Entstehungsgeschichte seines neuen Albums reicht weit zurück. Der Titel „I/O“, zunächst noch großgeschrieben, war schon seit 2002 im Umlauf. 2005 war im Magazin „Rolling Stone“ gar von 150 Songs die Rede, an denen Gabriel arbeite. Später konzentrierte er sich auf andere Projekte, sprach von einer „Kompost-Phase“ der neuen Kompositionen, kümmerte sich um seine krebskranke Ehefrau.

Ai Weiwei ist auch dabei

Eingespielt wurden die zwölf Stücke schließlich größtenteils in den von Gabriel gegründeten Real World Studios, die in einer alten Mühle in der Nähe von Bath untergebracht sind, sowie in seinem Heimstudio. Zur Seite standen ihm langjährige Mitstreiter: der Gitarrist David Rhodes, der Bassist Tony Levin und der Schlagzeuger Manu Katché, der schon am 1986er-Erfolgsalbum „So“ beteiligt war.

„i/o“ soll ein Gesamtkunstwerk sein, das hört man nicht nur aus jedem Song: Zu den zwölf Stücken haben bildende Künstler wie Ai Weiwei, Olafur Eliasson oder David Moreno jeweils Gemälde, Fotos oder Skulpturen geschaffen. Das Album hat trotz der vergleichsweise geringen Stückezahl etwas Ausuferndes, es ist überladen, thematisch diffus, und von jedem der Stücke, die in den vergangenen Monaten nach und nach veröffentlicht wurden, gibt es einen „Dark-Side-Mix“ und einen „Bright-Side-Mix“, je nach Stimmungslage.

Geboren als alter Mann

Tatsächlich hat „i/o“ großartige Momente. So die Lebensbilanz-Ballade „Olive Tree“ mit ihren paradoxen Zeilen „As an old man, I was born / But I grow to a baby“, die an F. Scott Fitzgeralds berühmte Kurzgeschichte „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ erinnern. Oder das euphorische, gospelartige Abschlussstück „Live and Let Live“, bei dem der Soweto Gospel Choir mitsingt, und in dessen Text sich Gabriel auf Nelson Mandela und Desmond Tutu beruft.

Zentral dürfte das ebenfalls sehr schöne, elegische Stück „Love can heal“ sein, eine Hommage an die 2016 von einem Extremisten brutal ermordete britische Abgeordnete Jo Cox. Der britische Künstler Antony Micallef hat dazu das Bild A Small Painting Of What I Think Love Is“ gemalt, Liebe ist hier eine Verschmelzungsfantasie. Eine von Gabriels entscheidenden Botschaften lautet also: Liebe kann heilen. Dagegen lässt sich kaum etwas sagen. Wenn es nur so einfach ginge.  

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