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Jeremy Irons als Charles Swann in der „Eine Liebe von Swann“-Verfilmung von Volker Schlöndorff. Links Ornella Muti als Odette.

© imago images / United Archives/KPA Publicity

Proustbetrieb: Der Tod von Charles Swann

Wie die Wirklichkeit des Schriftstellers Marcel Proust immer mal wieder und ganz unerwartet in die Romanwelt der „Recherche“ hereinbricht.

Eine Kolumne von Gerrit Bartels

Sigrid Nunez erwähnt in ihrem neuen Roman „Die Verletzlichen“, der selbst weniger ein Roman als ein Buch der eigenen Erinnerung ist, ein Memoir ihrer New Yorker Pandemiezeit, Nunez also erwähnt darin die schöne Definition eines Übersetzers von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Dieses Romanwerk sei „keine Autobiographie mit einer dünnen Schicht Fiktion, sondern das Gegenteil – Fiktion mit einer Schicht Autobiographie.“

Umso erstaunter ist man bei der Lektüre immer wieder mal, wie offen Proust hie und da die eigene Realität Einzug halten lässt. So wie beispielsweise in „Die Gefangene“. Nicht nur, dass hier seine Haushälterin Céleste Albaret gleich zweimal erwähnt wird.

Proust und sein Erzähler als Engel

Als sie nämlich zu dem Erzähler sagt, er sei eine „himmlische Gottheit, die du auf ein Bett gesetzt bist“, und ihm, der im Bett liegt, auf die Frage, warum er „gesetzt“ sei, antwortet: „Weil sie eben nichts von einem liegenden Menschen haben, Sie liegen nicht einfach im Bett, es ist, als wären Engel gekommen und hätten Sie dort abgesetzt.“

Nein, auch als der Erzähler sich mit Brichot, den er zufällig auf dem Weg zu den Verdurins trifft (großartig übrigens, wie lange er, Brichot und der später ebenfalls dazustoßende Charlus brauchen, bis sie endlich bei den Verdurins eintreten!), über den Tod von Swann unterhält, vermengen sich die Sphären des Realen mit dem Fiktiven.

Von seiner Erschütterung über Swanns Tod berichtet der Erzähler, räsoniert über die vielen Tode, die einer sterben kann, zumindest im Bewusstsein der anderen, feiert Swanns Großartigkeit, „obwohl er selbst nichts hervorgebracht hatte“, und spricht ihn dann noch an: „Und vielleicht leben Sie in Zukunft weiter, weil derjenige, den Sie für einen jungen Toren halten mussten, Sie zum Helden eines seiner Romane gemacht hat.“

Danach wird es vollends verwickelt. Denn der angesprochene (lange tote) fiktive Swann wird zu einer seiner Vorbildfiguren, dem (1902 verstorbenen) realen Charles Haas, einem Pariser Bildungsbürger mit jüdischem Hintergrund, den Proust als sehr junger Mann im Salon von Madeleine Lemaire kennengelernt hatte. Haas wiederum ist mit vielen anderen, auf einem Balkon stehenden Persönlichkeiten auf James Tissots Gemälde „Le Cercle de la rue Royale“ zu sehen, das Proust ebenfalls kannte und hier erwähnt.

Und er schreibt, dass man „über Sie“ (Swann? Haas?) deshalb so viel sprechen würde, „weil sichtlich einige Züge von Ihnen in die Figur des Swann eingegangen sind.“ Als wäre nichts gewesen, leitet Proust dann abrupt wieder „auf die allgemeine Ebene“, und es geht zurück zu Swann, zurück in die Fiktion, zurück in die Wirklichkeit seines Romans.

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