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Schlafende junge Frau, gemalt von Alfred Stevens

© Kunstkopie

Proustbetrieb: Die Schlafende

Marcels Liebe zu Albertine ist in Prousts „Recherche“ am beständigsten, wenn Albertine schläft – erst dann gehört sie ihm voll und ganz, erst dann gibt es keinen Grund zur Eifersucht.

Eine Kolumne von Gerrit Bartels

Die Liebe des Erzählers der „Recherche“ zu Albertine ist eine im höchsten Maß ambivalente. Das deutet allein der Titel des fünften Bandes an, „La Prisonnière“, die Gefangene.

Marcel, wie sie ihn einmal aus dem Trocadéro kommend in einem durch einen Fahrradboten überbrachten Brief nennt, („mein und lieber Marcel“ oder auch „so ein Marcel“, ganz ohne Erzähler-Konjunktiv), lebt also nun Wand an Wand und unter einem Dach mit Albertine zusammen und lässt sich jeden Abend „ihre Zunge in meinen Mund gleiten, wie ein tägliches Brot.“

Albertine ist die Gefangene

Doch am liebsten wäre ihm natürlich, sie würde von morgens bis abends daheim bleiben, ganz und gar nicht mehr ausgehen, sich mit niemand mehr treffen. So fühlt er sich ihrer Liebe am sichersten, so wie in diesem Band, da er bei den Verdurins ist und sie zuhause weiß. Sie hat seinetwegen sogar darauf verzichtet, dort hinzugehen, ohne zu wissen, dass er die Verdurin-Soirée besucht mit Morel als Vinteuil-Interpret.

Deshalb die Gefangene. Anders kommt Marcel seiner Eifersucht kaum bei. Zumal diese sich natürlich auch auf die Vergangenheit ausdehnt; auf Momente, in denen Albertine einst unzweideutige Blicke mit anderen Frauen austauschte oder sich nicht zufällig und aus Versehen eindeutige Berührungen ergaben.

Was also sind trotz ihres sexuellen Austausches seine größten Liebesmomente mit Albertine? Wenn sie schläft. Vier Szenen gibt es in „Die Gefangene“, und es sind mit die ein- und nachdrücklichsten Szenen dieses Bandes. Sie haben jenseits der Beziehung von Marcel und Albertine eine gewisse Allgemeingültigkeit. Denn wer schmilzt nicht dahin beim Betrachten des Schlafs der eigenen Kinder, des oder der Geliebten?

In dem ich so unter meinem Blick, in meinen Händen hielt, erlebte ich jenes Gefühl, sie ganz und gar zu besitzen, das ich niemals hatte, wenn sie wach war.  

Prousts Erzähler über die schlafende Albertine

Nur das technokratisch Besitzergreifende, das kennt man eher nicht, so wie es Prousts Erzähler hat. Albertine war, sobald sie schlief, „nur noch von dem unbewussten Leben der Pflanzenwelt, der Bäume beseelt, einem Leben, das von dem meinen verschiedener und ihm fremder war und mir doch mehr gehörte.“ Und weiter, noch präziser: „In dem ich so unter meinem Blick, in meinen Händen hielt, erlebte ich jenes Gefühl, sie ganz und gar zu besitzen, das ich niemals hatte, wenn sie wach war.“

Doch auch das Erwachen weiß er zu schätzen, aber bitte schön ohne ein Geheimnis in ihren Augen lesen zu müssen, bitte schön eine Albertine, „die mir so bekannt wie irgend möglich war.“ Er liebt sie, er liebt sie nicht, er weiß, dass er sie nicht mehr lieben wird, er weiß nicht, dass er sie schon nicht mehr liebt wie einst in Balbec. Erst Albertines Tod und das Vergessen befreien ihn von seiner Eifersucht.

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