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Wie Proust es auch gesehen hat: Venedig im Juni 2023

© IMAGO/Nordphoto

Proustbetrieb: Reise ins Unbewusste

Noch einmal Venedig: Die Stadt ist der Sehnsuchtsort des Erzählers der „Recherche“ - trotzdem holen ihn hier Combray und die Beziehungen zu Albertine und seiner Mutter aufs Heftigste ein.

Ein Kommentar von Gerrit Bartels

Man wird bei der Lektüre der „Recherche“ manchmal ungeduldig, wenn von Venedig die Rede ist. Wie oft geht es um Venedig, wie gern würde der kleine, später ältere Marcel dorthin reisen, und doch wird diese Reise immer wieder vertagt. So müssen zum Beispiel eine Tizian-Reproduktion, Zitate von Ruskin („diesem finsteren Schwätzer und ärgsten Salbader, den es auf Erden gibt“, wie der ach so böse Freund Bloch meint) oder Albertines Fortuny-Kleider als Surrogate dienen.

In der „Flüchtigen“, dem im Deutschen sechsten Teil der „Suche nach der verlorenen Zeit“ ist es dann endlich so weit, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der verlorenen Liebe und dem Tod Albertines, dem Bemühen um das ultimative Vergessen von ihr.

Die Bleikammern des inneren Venedigs

Aber anstatt nur zu staunen und den so lange beschworenen Zauber von Venedig auf sich einwirken zu lassen, kommt ihm unentwegt Combray in den Sinn, sein Kindheitsort. Er sammelt Eindrücke, „die ganz denen verwandt waren, die ich früher so oft in Combray gekannt hatte, jetzt aber umgesetzt in etwas ganz anderes, Reicheres.“ Zum Beispiel die Zimmerfenster seiner Tante Léonie, an die er sich beim Betrachten der Spitzbögen der Fassade seines Hotels erinnert.

Schwermut und vage Empfindungen

Wie hat es Marcel Prousts Freund, der antisemitische Schriftsteller Paul Morand interpretiert: „Für Proust ist Venedig die Stadt des Unbewussten. In jedem von uns sind Bleikammer verborgen.“ Dazu gehört die so lange Verschiebung dieser Reise, für die nie ein triftiger Grund vorliegt; dazu gehört natürlich die Liebesgeschichte mit Albertine, die es zu verarbeiten gilt (einmal ist in der „Flüchtigen“ von den „Bleikammern eines inneren Venedig“ die Rede, in denen er die junge, noch lebendige Albertine vermutet); und zu diesem Unbewussten gehört vielleicht am dominantesten, dass die Mutter mit von der Venedig-Partie ist, sie hatte ihn überhaupt dorthin mitgenommen.

Es gilt, sich von der Mutter zu lösen. Der Schluss des Venedig-Kapitels ist da bezeichnend: Marcel will länger in Venedig bleiben als die Mutter. Denn die Baronin Putbus wird in seinem Hotel erwartet, „und sofort erhob das Bewusstsein von all den Stunden sinnlicher Lust, um die unsere Abreise mich bringen würde, jenes Verlangen, das in chronischem Zustand in mir vorhanden war, zur Höhe eines Gefühls und überflutete es mit Schwermut und vagen Empfindungen.“

Er wehrt sich, lässt die Mutter allein zum Bahnhof, hört „O sole mio“ und holt sie in letzter Minute doch noch ein – und Venedigs Paläste sind nur noch „Anhäufungen von gewöhnlichem Marmor“.

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