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© picture alliance / Daniel Reinha/Daniel Reinhardt

Proustbetrieb: Sonate und Septett

Die Umsetzung von Tiefe in eine klangliche Ordnung: Wie der Erzähler der „Recherche“ ein weiteres Meisterwerk des Komponisten Vinteuil entdeckt.

Ein Kommentar von Gerrit Bartels

Mit dem Komponisten Vinteuil wird man in Prousts „Recherche“ früh bekannt gemacht. Mehr noch als mit dem schüchternen, niedergeschlagenen Mann, als den ihn der Erzähler erlebt, allerdings mit seiner Tochter, die zusammen mit einer Freundin ein Porträt ihres Vaters lustvoll bespuckt. Und natürlich mit seiner Sonate für Geige und Klavier, deren eine Melodie (das „kleine Thema“), zu einem Liebes- und Erinnerungsmotiv von Swann und Odette wird.

Doch der Höhepunkt der Auseinandersetzung mit Vinteuils Schaffen folgt erst viel später: in dem Band „Sodom und Gomorhha“. Darin strukturiert die Frage, ob Vinteuil noch mehr als diese Sonate komponiert hat, leitmotivisch eine Soirée bei den Verdurins in ihrem Haus bei Balbec.

Morel spielt Vinteuil

Vor allem aber in „Die Gefangene“, als der Erzähler abermals bei den Verdurins weilt, um hier nicht zuletzt Morel und einen Pianisten zu sehen und zu hören. Überrascht registriert er zu Beginn, dass weitere Musiker auf der kleinen Bühne Platz nehmen.

Der Grund: Tatsächlich wird etwas von Vinteuil gespielt, aber nicht die Sonate, sondern ein bislang unveröffentlichtes Werk. Es erklingt ein Septett, das sich dem Erzähler nach einigen Irritationen als „triumphales, vollkommenes Meisterwerk“ darstellt. Als ein Werk, in dem mehrmals das kleine Thema aufscheint, aber immer nur kurz. Das führt ihn zu Erörterungen über die Einzigartigkeit Vinteuils als Musiker und Künstler, und er spürt, dass es sich bei diesem Septett „um die Umsetzung von Tiefe in klangliche Ordnung handelte“.

Doch sein Thema in dieser Passage ist nicht nur das Künstlertum von Vinteuil; auch Albertine spielt eine Rolle, die zu diesem Zeitpunkt bei Marcel zuhause ist (und der er trickreich verschwiegen hatte, dass er zu den Verdurins geht, wo sie eigentlich hingehen wollte).

Das doppelköpfige Ungeheuer

Es geht um das doppelköpfige Wesen seiner Liebe zu ihr, um seine Eifersucht wegen Albertines Bekanntschaft mit der queeren Tochter von Vinteuil; schließlich um eben diese Tochter, deren Freundin wiederum angeblich unter Schuldgefühlen leidet, den Tod Vinteuils beschleunigt zu haben. Um deshalb zum Ausgleich die von Vinteuil hinterlassenen, aber scheinbar wirr dahin geschriebenen Kompositionen zu entschlüsseln.

So hängt hier alles zusammen: die Kunst und das Laster, das Geniale und die Liebe. Und die Hoffnung des bezüglich der eigenen Literatur stets so zaudernden Erzähler, „dass mein Leben, wie eitel es mir auch schien, zumindest noch nicht alles vollbracht hatte.“

Was hier für die „Heimat“, die „Tiefe“, das Vermögen von Vinteuil gilt (so wie für die beiden anderen Großkünstler der „Recherche“, Elstir und Bergotte), nämlich seine Hörer „von Stern zu Stern“ fliegen zu lassen, all das gilt schließlich genauso für Proust und seine „Suche nach der verlorenen Zeit“.     

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