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Frankensteins Tochter (Emma Stone) und das Biest (Mark Ruffalo): „Poor Things“ von Giorgos Lanthimos verbindet die Gesellschaftsparabel mit einer fantastischen Horrorkomödie.

© Atsushi Nishijima/ATSUSHI NISHIJIMA

Venedig Filmfestival (3): Von hässlichen und schönen Monstern

Vampire und Frankenstein-Kreaturen durchstreifen den diesjährigen Venedig-Wettbewerb. In „Poor Things“ von Giorgos Lanthimos gibt es auch einen ersten Favoriten.

Von Andreas Busche

Das Kino hat seit jeher ein Faible für die Kreaturen der Nacht; die unersättlichen wie die tragischen, die unsere Begehren und Ängste an die Oberfläche befördern. Das renommierte Studio Universal hatte zu Beginn der 1930er Jahre mit seinen Horror-Geschöpfen den Übergang zum Tonfilm geschafft: Dracula, Frankensteins Monster, die Mumie, der Unsichtbare. Im Horrorfilm kamen die Attraktionen des frühen Kinos und das Drama zusammen, die bewegten Bilder machten keinen Unterschied zwischen dem Schönen und dem Bestialischen.

Auch Venedig hat ein Herz für Monster, spätestens seit Guillermo del Toro hier 2017 mit „The Shape of Water“ den Goldenen Löwen gewann. Und der mexikanische Regisseur könnte dieses Jahr in Giorgos Lanthimos einen würdigen Nachfolger finden, dessen Frankenstein-Variation „Poor Things“ sich ebenfalls aus dem Baukasten des „Universal-Horror“ bedient – für eine zeitgemäße und auf verschlungenen Nebenpfaden immer wieder verblüffend derangierte Parabel auf den freien (weiblichen) Willen in einer patriarchalen Gesellschaft.

Vom Forschungsobjekt zum Subjekt mit unstillbarer Libido

Bella Baxter, gespielt von Emma Stone, wurde als Chimäre wiedergeboren: Der Wissenschaftler Godwin Baxter (Willem Dafoe) transplantierte in ihren verstorbenen Körper das Gehirn ihres neugeborenen Babys. Mit zunehmender Eloquenz wird Bella aber vom „Forschungsobjekt“ zum Subjekt mit eigenem Bewusstsein und einer unstillbaren Libido. Sex fungiert gewissermaßen als Belohnungssystem für ihre Subjektwerdung, wie sie es von den Männern in ihrem Leben gelernt hat (allen voran einem debil-verschlagenen Mark Ruffalo als sexual predator).

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Und Bella beginnt früh zu ahnen, dass jenseits der Begrenzungen des männlichen Geistes eine neue Welt auf sie wartet. Auch die schwarz-weiße Realität des viktorianischen Londons verwandelt sich außerhalb des Einflusses ihres Ziehvaters in einen überkandidelten Technicolor-Film, den sich Wes Anderson und der junge Tim Burton nicht schöner hätten ausmalen können.

Lanthimos, 2018 am Lido mit dem Regie-Preis für „The Favourite“ ausgezeichnet, hat sich mit „Poor Things“ noch einmal selbst übertroffen. Auch Emma Stone beweist erneut, dass der beißend-trockene Humor des griechischen Regisseurs – mal skurril, mal viszeral in den Eingeweiden wühlend – ihr in den höheren Registern ihres Spiels die herrlichsten Gesichtsentgleisungen entlockt: ob beim Sex mit einer Gurke oder im Moment der Erkenntnis, das im Leben Grausamkeit und Schönheit einander bedingen. Ein Monster wie Bella Baxter hat es im Kino noch nicht gegeben.

Pinochet durchlebt als Vampir die Jahrhunderte

Auch die realen Monster der Geschichte gehören zum Kino; die Schrecken, die sie verbreiten, sind jedoch tief in dessen Unbewussten verschüttet. Der Regisseur Pablo Larraín („Spencer“) befreit mit seinen Filmen gerne mal das dunkle Id der chilenischen Geschichte.

Jaime Vadell spielt in „El Conde“ einen vampirischen Augusto Pinochet.

© Pablo Larraín/Netflix

In „El conde“ lässt er sogar ein ganz besonderes Monstrum von der Kette: Augusto Pinochet, gespielt von Jamie Vadell, hat als Vampir die Französische Revolution erlebt und Menschen aus Flugzeugen entsorgt. Erschöpft will der blutdurstige Diktator nun seinem Leben ein Ende bereiten, die Kinder sorgen sich schon um den Nachlass aus Jahrhunderten – und von diversen schwarzen Bankkonten. Eine Nonne fungiert als Buchhalterin des Tyrannen, Margaret Thatcher als Erzählerin.

Das allzu Offensichtliche ist in einer Satire ja nicht per se das schlechteste Stilmittel, aber wirklich einleuchten will das Vampir-Motiv, wie Larraín es benutzt, trotzdem nicht. Die Litanei von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form einer Buchprüfung ist ermüdend, der greise Diktator als Lustgreis für die Ordensschwester nur bedingt komisch. Und die Leichtigkeit, die die Kamera im Gleitflug mit dem Vampir über Santiago immer wieder andeutet, verleiht seinem Film auch keine erzählerischen Freiheiten. „El conde“ ist ebenfalls eine Chimäre, allerdings errechnet aus Netflix’ Algorithmen.

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