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Schwere Entscheidung: Blick in die Triage-Abteilung eines Krankenhauses

© Fabian Strauch/dpa

Neues „Triage-Gesetz“ : Vor dem Arzt sind alle gleich – wirklich?

Was tun, wenn es in einer Pandemie mehr Schwerkranke als Behandlungsplätze gibt? Die Regierung hat ein Diskriminierungsverbot verabschiedet. Das Dilemma bleibt.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Vor Gott und dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Dieser volkstümliche Satz beschreibt im ersten Teil eine Realität. Vor Gott – oder dem Jüngsten Gericht oder dem fliegenden Spaghettimonster oder wie immer die letzte Instanz bezeichnet wird – sind in der Tat alle gleich.

Im zweiten Teil beschreibt der Satz einen Anspruch. Vor dem Gesetz sollen alle Menschen gleich sein. Da darf es nicht nach Sympathie, Prominenz oder Reichtum gehen. Leider tut es das manchmal - wie ein anderer volkstümlicher Satz formuliert: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.

Auch vor dem Arzt sind alle Menschen gleich. Mediziner dürfen nicht diskriminieren. Sie dürfen keine Entscheidungen aufgrund von Alter, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, Behinderung, Vorerkrankung oder Vermögen treffen. Schon das Phänomen einer Zweiklassenmedizin widerspricht diesem Grundsatz. Dennoch gehört das Prinzip der Gleichwertigkeit allen menschlichen Lebens zu den Säulen der Verfassung.

Jedes Aufwiegen, Abwägen und Priorisieren ist untersagt

Diese sogenannte Lebenswertindifferenz verbietet jedes Aufwiegen, Abwägen und Priorisieren. Das Leben einer jungen alleinerziehenden Frau, die zusätzlich ihre demenzkranke Mutter pflegt, ist nicht mehr wert als das eines alten, obdachlosen Alkoholikers.

Was aber, wenn Ärzte entscheiden müssen, wen sie behandeln, wenn keine ausreichenden intensivmedizinischen Ressourcen zur Verfügung stehen? Das ist das Dilemma einer Triage. Es kann in einer Pandemie eintreten, im Krieg oder nach einer Naturkatastrophe. Die Zahl der Schwerkranken übersteigt die Kapazitäten der Krankenhäuser. Was tun?

Vor einer Woche beschloss der Bundestag eine Ergänzungsregelung im Infektionsschutzgesetz. Im Pandemiefall soll als alleiniges Kriterium, wer einen knappen Behandlungsplatz erhalten soll, künftig die „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“ eines Patienten gelten. Untersagt wird jede Art von Benachteiligung – etwa aufgrund von Alter, Behinderung, Grad der Gebrechlichkeit, Herkunft, Religion, Geschlecht oder sexueller Orientierung.

Die Richter sahen ein mögliches „Einfallstor“ für Diskriminierung.

Der Gesetzgeber musste handeln. Im Dezember 2021 war ihm das vom Bundesverfassungsgericht aufgetragen worden, um Willkür und Diskriminierung in einer Triage zu verhindern.

Ausdrücklich zurückgewiesen wurde in dem Beschluss eine Leitlinie der „Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin“ (DIVI) vom Frühjahr 2020. Darin wurden „schwere andere Erkrankungen im Sinne von Komorbiditäten und die Gebrechlichkeit als negative Indikatoren für die Erfolgsaussichten der intensivmedizinischen Behandlung“ bezeichnet. Darin sahen die Obersten Richter ein mögliches „Einfallstor“ für Diskriminierung.

Das Diskriminierungsverbot, das nun erlassen wurde, relativiert die utilitaristische Maxime, in einer Triage möglichst viele Menschenleben retten zu wollen. Denn dann hätten Menschen mit Behinderung, chronisch Kranke oder Alte wegen einer oftmals kleineren Überlebenswahrscheinlichkeit weniger Chancen, behandelt zu werden.

Das muss gehen, dekretiert die Regierung. Sie sagt aber nicht wie

Oliver Tolmein, der den Fall vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten hatte, sagt: „Wenn ein Schiff untergeht, heißt die Devise auch nicht: rette sich, wer kann“, sondern: Frauen und Kinder zuerst. „Das sichert nicht, dass die meisten Menschen gerettet werden, sondern dass die Bedürftigsten eine Überlebenschance bekommen.“

Doch aufgelöst ist das Dilemma nicht. Vielmehr vertieft die Neuregelung die Entscheidungsnot vieler Ärzte. Sie stehen auch weiterhin vor der Frage: Wie soll die „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“ eines Patienten beurteilt werden, wenn alle potenziell diskriminierenden Faktoren ausgeblendet werden müssen? Wenn weder Vorerkrankung noch Behinderung, weder Impfstatus noch chronische Krankheit, weder Alter noch Gewicht berücksichtigt werden dürfen?

Oft bleibt ein Restzweifel, ob alles richtig war

Das muss gehen, dekretiert die Regierung. Sie sagt aber nicht wie. Die Umsetzungsproblematik wird den Ärzten aufgebürdet. Sie werden mit der Aufforderung „Kommt gut an!“ in eine Sackgasse geschickt.

Es gibt Situationen, in denen Ärzte nicht nach ethisch einwandfreien Kriterien handeln können und müssen. Ob in der Abtreibungs-, Sterbehilfe- oder Triage-Problematik: Oft bleibt ein Restzweifel, ob alles richtig war. Diese Last den Ärzten durch klare gesetzliche Regelungen abnehmen zu wollen, ist einerseits löblich, andererseits endet der Vorsatz zumeist in praxisfernen Postulaten.

Am fairsten in einer Triage wäre wohl eine Art First-come-first-serve-Verfahren: Schwer Erkrankte, die zuerst eingeliefert werden, werden als erste behandelt. Freilich schließt sich auch daran eine diffizile Definitionsfrage an. Wer gilt als schwer erkrankt?

Vor dem Gesetz und der Medizin sollen alle Menschen gleich sein. Niemand darf bevorzugt oder benachteiligt werden. Diesem Grundsatz nicht in allen Lebenslagen gerecht zu werden, bedeutet nicht, ihn aufgeben zu müssen. In dilemmatischen Lagen reicht der Wille, ihm so nahe zu kommen wie möglich.

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