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© Verena Schulz für den Tagesspiegel

Halleluja für das gemeinsame „Amen“ : Und bitte die Kirche im Dorf lassen

Religion, Kirchen und ihre Traditionen verlieren massiv an Bedeutung, aber das sollte nicht überdehnt werden. Es hängt auch Gemeinschaft daran.

Ein Essay von Ariane Bemmer

Vielleicht sind die Kirchen in diesem Jahr voller als früher bei Weihnachtsgottesdiensten, weil Krieg ist und Beistand und Erbauung nötig. Oder sie sind leerer, weil sie so schlecht heizen, und gefroren hat man wirklich schon genug. Auf jeden Fall aber werden sie voller sein als an sämtlichen anderen Sonntagen des Jahres.

Für die Vorhersage braucht es kein prophetisches Talent. Ebenso wenig für die Annahme, dass die, die hingehen, dort Menschen treffen werden, die sie von irgendwoher kennen, dass sie ein bisschen reden und lachen.

Und vielleicht – hier wird es schon vager – denken die einen oder anderen auf dem Heimweg: „War doch nett“ und: „Warum machen wir das eigentlich so selten?“ Gute Frage. Warum eigentlich?

Kirche und Religion, die immerhin bestimmend für diese Gesellschaft waren und das auf dem Papier auch noch sind, spielen im Leben der Menschen in Deutschland eine immer geringere Rolle. Gerade erst wieder belegt das der aktuelle „Religionsmonitor 2023“ der Bertelsmann-Stiftung.

Die neuesten Umfragestatistiken gaben wieder, was längst klar ist: dass Religion an Schwindsucht leidet. Es geht die Zahl derjenigen zurück, die an Gott glauben, und die regelmäßig zur Kirche gehen, und auch diejenigen, die über sich selbst sagen, dass sie religiös erzogen wurden, werden weniger.

Religionsferne wird Eltern an Kinder durchgereicht

Damit ist fruchtbarster Boden bereitet für die religions- und kirchenlose Zukunft. Je weniger Kinder von ihren Eltern ein Gefühl für Religion bekommen, desto weniger werden das weitergeben können.

Ein stetiges Wachstum unter den vielen Abfragepunkten des Monitors verzeichnet allein die Gruppe die Noch-Kirchenmitglieder, die ihren Austritt planen oder ernsthaft darüber nachdenken.

Die Gründe dafür finden sich politisch im skandalösen Umgang besonders der katholischen Kirche mit der Gewalt, die ihre Geistlichen Kindern zugefügt haben: das ganze Vertuschen, das Sich-Wegducken. Und abstrakter in Motiven wie Kirchen- und Religionsferne. Wozu soll man das noch brauchen?

Diese Entwicklung ist ungünstig für die Kirche selbst, die als Institution auch von den Einnahmen durch Mitglieder leben, und durch deren Abkehr arg in Bedrängnis geraten. Aber das ist es nicht allein.

Wo sind sie nur, die Kirchenbesucher?

© Rolf Kremming/imago

Aus der Sicht des Religionspsychologen Sebastian Murken hat die Entwicklung auch Bedeutung für die Gesellschaft als Ganzes. Religion habe ihre Funktion als Klammer verloren, sie sei von der kollektiven Selbstverständlichkeit zur Privatsache geworden, erläutert er in der Zeitschrift „Psychologie heute“.

Und er prognostiziert, dass Religionspolitik und Kirchensubventionierung durch den Staat davon nicht ewig unbeeinflusst bleiben können, auch wenn sich bisher niemand in der Politik traue, das anzupacken.

Ist es vorstellbar, dass niemand weiß, was betenden Hände bedeuten sollen?

Und die Frage ist ja auch: Ist es wirklich vorstellbar, dass das mit den Kirchen einmal aufhört? Dass Religion aus der Öffentlichkeit verschwindet? Dass irgendwann nur noch Eingeweihte wissen, was es bedeutet, wenn Menschen sich bekreuzigen? Was betende Hände aussagen sollen?

Oder sind Religion und Kirche als gesellschaftliche Klammer irgendwie immer noch akzeptiert, auch wenn sich immer weniger Menschen aktiv um ihre Erhaltung kümmern? So wie Goethe und Schiller für deutsches Kulturgut gehalten werden, auch wenn immer weniger Menschen wissen wollen, wofür die stehen.

Das mit der Klammer ist ein schönes Bild, wenn man Klammer als etwas betrachtet, das zusammenhält, was sonst auseinanderfällt und herumflattert. Eine gesellschaftliche Klammer ist eine Möglichkeit, gemeinsam und ritualisiert „Ja“ zu etwas zu sagen.

Dass das etwas Wichtiges, etwas Stärkendes ist, merken vielleicht auch all jene, die nur mühsam das Vaterunser im Chor aufsagen und umso erleichterter ins abschließende gemeinsame „Amen“ einstimmen.

Amen! Gefaltete Hände sind eine Geste, die allen verständlich ist.

© dpa

Und umso wichtiger, als viele heutige Zugehörigkeitserklärungen kleinteilig sind und vieles ausgrenzen, um sich selbst zu definieren.

Ganz profan gleicht das Schicksal von Kirchen und Religion dem anderer Großorganisationen und-bewegungen: Gewerkschaften, Parteien, Sportvereine undsoweiter. Es passt also zum taktgebenden Vereinzelungstrend, zu Bürobelegschaften, die Homeoffice-Online-Konferenz-Kachel-Sammelsurien geworden sind, zu Einkäufen, die geliefert werden, Online-Kontaktbörsen, Fernsehen „on demand“ via Mediathek.

Nicht mal die Fußball-Weltmeisterschaft – sonst Gemeinsamkeitsgenerator erster Klasse – hat diesem Anspruch in diesem Jahr genügt.

Und demnächst wird man womöglich sogar Bücher, die man lesen möchte, nicht mehr von Verlagen und Autoren erhoffen müssen, sondern kann sich die kurzerhand von der neuen KI-Texterstellungssoftware ChatGPT schreiben lassen.

Wer in diesen Zeiten also ritualisiert Gemeinsames erleben will, muss suchen. Clubs und Discos sind noch am Ehesten Adressen für gemeinsames Erleben, aber in der Regel exklusiv und darum für eine „kollektive Selbstverständlichkeit“ ungeeignet.

Konzerten, Lesungen und sonstigen Kulturterminen fehlt die Regelmäßigkeit. Bleiben als Fels im großen Vereinzelungssturm die Kirchen, die immer da und immer offen für absolut jede und jeden sind.

Vielleicht könnte man beim gemeinschaftlichen Weihnachtsfest, als Datum immerhin ist noch klammertauglich, in diesem Jahr daran mal denken.

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