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Ein Zahlencode läuft in der Zentralstelle Cybercrime Bayern (ZCB) über einen Bildschirm.

© dpa/Nicolas Armer

Das Grauen im Netz: Prozess um Kinderpornografie

Die Darknet-Plattform „Boystown“ galt als eines der weltweit größten Foren für den Austausch kinderpornografischer Inhalte. 2021 schnappten Ermittler die Führungsriege.

Andreas G. sitzt an seinem Computer, als ein Spezialkommando der Polizei am 13. April 2021 seine Wohnung im Kreis Paderborn stürmt. Nur wenige Sekunden, dann ist der 49-Jährige überwältigt. Noch wichtiger: G. schafft es nicht, seinen Rechner zu sperren.

Darauf kommt es den Beamten an. Sie bringen G. in die Küche, Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes (BKA) beginnen mit der Spurensicherung am Computer. Es ist der Anfang vom Ende einer der größten internationalen Darknet-Plattformen für Kinderpornografie, ihr Name: Boystown.

Mehr als 400.000 Nutzerkonten zählt das Portal, das über normale Internetsuchmaschinen nicht zu finden ist. Im virtuellen Schattenreich tauschen dort Pädophile untereinander Fotos und Videos, die teils schwersten sexuellen Missbrauch von Kindern zeigen – vorzugsweise von Jungen. Die mutmaßliche Führungsriege, vier Männer, sind allesamt Deutsche. Mehrere Monate lang hat das BKA sie observiert, ihre Telefonate mitgehört, die Verbreitung von Fotos und Videos dokumentiert.

Es gibt ein überragend großes Risiko für erneute Taten

Psychiater Sven Krimmer vor Gericht 

Andreas G., der mit blutiger Nase auf dem Fußboden der Küche sitzt, erfährt, was die Ermittler bereits über ihn wissen. Er kooperiert. Als auf seinem Mobiltelefon eine Nachricht von Alexander G. aufleuchtet, ein weiterer Administrator von Boystown, folgt er den Anweisungen der Polizisten.

Er antwortet, als wäre nichts geschehen. Wenig später nimmt das BKA Alexander G. im Landkreis Mühldorf am Inn fest, beschlagnahmt auch dort Computer, Festplatten, USB-Sticks und Mobiltelefone. Sichergestellt wird überdies ein Server, den der IT-Techniker vom Keller eines Kunden aus betrieben hatte – ausgerechnet einer kirchlichen Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung. Fritz K. finden die Beamten in einem Hamburger Altenheim.

Als die Polizei eintrifft, ist der 66-Jährige gerade auf Boystown aktiv. Widerstand leistet der sehbehinderte Mann nicht. Christian K., der Vierte im Bunde, der ursprünglich aus Norddeutschland stammt, wird in Paraguay festgenommen und ein paar Monate später auf eigenen Wunsch an Deutschland ausgeliefert. Seit ihrer Festnahme sitzen Andreas G., Alexander G., Fritz K. und Christian K. in Untersuchungshaft.

400
Seiten ist die Anklageschrift lang

Vor dem Landgericht in Frankfurt am Main hat Mitte September der Prozess gegen die Boystown-Drahtzieher begonnen. Die Anklageschrift umfasst mehr als 400 Seiten. Zum Schutz der Opfer wurde die Öffentlichkeit beim Verlesen zeitweise ausgeschlossen. Federführend sollen Alexander G. und Christian K. das Pädophilen-Forum ab Mitte 2019 aufgebaut haben.

Genau wie sie gehörte auch Andreas G. zu den Administratoren. Fritz K. zählte zu den aktivsten Nutzern. Allen Angeklagten wird der Besitz und die Verbreitung von kinderpornografischen Fotos, Videos und Schriften vorgeworfen, Andreas G. und Alexander G. zudem schwerer sexueller Kindesmissbrauch.

Ihnen droht anschließende Sicherungsverwahrung

Fünf Opfer, darunter der Neffe von Andreas G., lassen sich im Prozess als Nebenkläger von Anwälten vertreten. Zwei Sachverständige geben Einschätzungen zur Schuldfähigkeit und zum Risiko, dass die Angeklagten rückfällig werden könnten. Auch wenn sie sich nach der Festnahme kooperativ verhalten haben, droht den Männern eine anschließende Sicherungsverwahrung.

Der Alltag auf Boystown war bestimmt von einer klaren Hierarchie, angeführt von Administratoren und Moderatoren. Für Beiträge gab es sinngemäß folgende Regeln: Bitte nur Videos und Bilder von Jungen, nicht von Kleinkindern, und bitte keine körperliche Gewalt – als ob Kindesmissbrauch nicht Gewalt per se wäre.

Neben Nacktbildern kursierten auf Boystown aber auch Alltagsfotos von Kindern, offenbar gefunden und kopiert auf den öffentlichen Instagram- oder Facebook-Konten argloser Eltern. Für Material, das in den Augen der Pädophilen besonders gelungen war, bekamen Nutzer zur Anerkennung sogar Orden verliehen. Fritz K., der sich im Forum „Putzy“ nannte, gehörte laut BKA zu den 40 aktivsten Boystown-Nutzern. Andreas G. alias „Phantom“ werden 79 Verbreitungshandlungen vorgeworfen, darunter Belege für eigene Missbrauchstaten.

Das Leid Schutzloser

Insbesondere Andreas G. und Alexander G. haben umfangreiche Geständnisse abgelegt. Sie lieferten Einblicke und Erklärungsansätze, wie es soweit kommen kann, dass Menschen das Leid Schutzloser ausblenden, um ihre Sexualität auszuleben.

Alexander G., ein Mann mit dichtem, silbergrauem Haar und spitzer Nase, hat in mehreren Vernehmungen erzählt, er sei selbst vom Stiefvater missbraucht worden. Er wiederholte das Martyrium bei einem leiblichen Sohn und einem Stiefsohn, filmte sogar und teilte die Videos.

„Es gibt ein überragend großes Risiko für erneute Taten“, befindet Psychiater Sven Krimmer vor Gericht über den Bayer. Für Andreas G., der unter anderem seinen Neffen sexuell missbrauchte und Fotos sowie Videos davon verbreitete, hat eine Gutachterin bereits Sicherungsverwahrung nach der Haft empfohlen.

Ich will reinen Tisch machen

Andreas G. Angeklagter

Der stämmige Ostwestfale, Vollbart und stets im kurzen weißen Oberhemd, hatte sich an einem der ersten Prozesstage geäußert und seine Opfer um Vergebung gebeten: „Ich will reinen Tisch machen.“ Ein vergeblicher Wunsch, bedenkt man das wohl lebenslange Leid der Opfer.

Dass nach Auskunft der Frankfurter Staatsanwaltschaft aktuell Ermittlungen gegen weitere Boystown-Nutzer laufen, ist zum Teil allerdings auch Andreas G. zu verdanken. Er machte die Polizisten bei seiner Festnahme darauf aufmerksam, dass der Server der Darknet-Plattform über einen sogenannten Totmannschalter verfüge.

Alle 24 Stunden müsse eine spezielle Aktion ausgeführt werden, warnte er, sonst würden alle Boystown-Daten unwiederbringlich verschlüsselt. Andreas G. verhinderte damit die Vernichtung von Spuren und Beweisen. Nach der Festnahme der Führungsriege sowie der Sicherung und Auswertung aller Daten schalteten BKA und Staatsanwaltschaft Boystown ab.

Wie genau die Ermittler den Hintermännern im Darknet technisch auf die Schliche gekommen sind, will die Staatsanwaltschaft nicht preisgeben. „Wer sich strafbar macht, soll sich nicht sicher fühlen, auch nicht im Darknet“, sagt eine Sprecherin.

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