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„Diese Preise zahlen wir nicht“: Einblicke in die streng geheimen Verhandlungen zwischen EU und „Big Pharma“

Vor Kurzem erhöhten Biontech/Pfizer und Moderna die Preise für Covid-Impfstoffe. Ist das gerechtfertigt? Darüber gehen die Meinungen auseinander.

Von Maxence Peigné

Im September 2020 gab die oberste Verhandlungsführerin der EU-Kommission für Impfstoffe ein Versprechen ab. Die Dosen würden zwischen fünf und 15 Euro kosten, versicherte Sandra Gallina den Mitgliedern des Europäischen Parlaments. „Wir können nicht über bestimmte Grenzen hinausgehen, weil es nicht bezahlbar wäre“, sagte sie vor dem Gesundheitsausschuss. Sie ahnte nicht, dass ihre feste Obergrenze nur ein Jahr später bröckeln würde.

Denn zwei der vier Hersteller, die die EU beliefern, haben ihre Preise deutlich erhöht. Aus Dokumenten, die der „Financial Times“ vorliegen, geht hervor, dass der Impfstoff von Pfizer/Biontech nun 19,50 Euro statt zuvor 15,50 Euro kostet. Moderna verlangt für eine Impfstoffdosis inzwischen 25,50 US-Dollar (21,60 Euro) statt 22,50 US-Dollar im ersten Abkommen.

Wie kam es zu der Preissteigerung? Investigate Europe, ein internationales Journalistenteam, mit dem der Tagesspiegel schon mehrmals zusammengearbeitet hat, konnte nun erstmals mit Teilnehmern der Verhandlungen sprechen und damit ein Bild von den Machtverhältnissen in den Gesprächen zeichnen.

Analysten hätten höhere Preise gefordert

Einer, der an den Verhandlungen mit den Herstellern beteiligt war, ist der Impfstoffkoordinator der schwedischen Regierung, Richard Bergström. Die Preise für Medikamente würden sich immer nach deren Wert richten – nicht nach den Herstellungskosten, sagte Bergström. Nach dieser Regel „sollten die Impfstoffe von Moderna und Pfizer mehr als 100 Dollar pro Dosis kosten, das war die Ansicht der Märkte und der Analysten“, rechtfertigt Bergström das Verhandlungsergebnis. „Diese Preise zahlen wir nicht.“

Die Vereinbarungen wurden im Mai und Juni für insgesamt bis zu 2,1 Milliarden Impfungen bis 2023 getroffen. Die neuen Bedingungen umfassen Impfungen für Kinder sowie mögliche Booster-Impfungen, um vor künftigen Covid-Varianten zu schützen. „Es ist ein Pauschalpreis für die nächsten zwei Jahre, und wir denken, dass das ein sehr gutes Geschäft war“, sagt Bergström.

Richard Bergström meint, die EU hat einen guten Deal mit den Pharmaherstellern ausgehandelt.
Richard Bergström meint, die EU hat einen guten Deal mit den Pharmaherstellern ausgehandelt.

© imago/photothek/Raphael Huenerfauth

Solche Details sind wichtig, um die undurchsichtigen Verfahren zu verstehen. Als die Europäische Kommission mit der Beschaffung von Impfstoffen im Namen der Europäischen Union beauftragt wurde, ernannten die Mitgliedstaaten ein gemeinsames Verhandlungsteam aus sieben Delegierten. Die meisten blieben jedoch anonym, mit Ausnahme von Bergström sowie dem spanischen Verhandler César Hernandez.

Kritik an der Intransparenz

Das blieb nicht kritiklos. „Mein Problem ist, dass ich die Verhandlungsführer nicht kontrollieren kann“, bedauert Mohammed Chahim, ein niederländischer Abgeordneter im Gesundheitsausschuss des Europaparlaments. „Das Parlament sollte an den Gesprächen beteiligt sein. Dieser Mangel an Transparenz nährt die Ressentiments gegen Impfungen.“

Darüber hinaus blieben die Geschäfte lange Zeit geheim, trotz der drei Milliarden Euro an sogenannten Advanced Purchase Agreements, die den Arzneimittelherstellern Aufträge sichern und das Produktionsrisiko verringern sollten. „Die Verträge wurden erst nach monatelangem Druck der Zivilgesellschaft, der Europaabgeordneten und des Europäischen Bürgerbeauftragten freigegeben“, sagt Olivier Hoedeman von Corporate Europe Observatory.

Diese NGO stellte im September 2020 zwei Anträge auf Informationsfreiheit bei der Kommission, um Zugang zu den Unterlagen zu erhalten. Zusätzlich zu den Verträgen wurden 365 interne Dokumente identifiziert, von denen jedoch nur 80 freigegeben wurden. „Leider wurden sie so stark geschwärzt, dass ihre Offenlegung praktisch keine sinnvolle Transparenz bietet“, so Hoedeman.

Die unrühmliche Rolle der USA

Informationen über ihre Kosten und Gewinnanteile hielten Biontech/Pfizer und Moderna zurück. Das bestätigen zwei der Verhandlungsführer, mit denen Investigate Europe sprechen konnte. Sie waren an der ersten Runde der Auftragsvergabe beteiligt, müssen aber anonym bleiben. Die Verhandler sagten übereinstimmend, dass der EU durch die Verträge, die die Vereinigten Staaten bereits unterzeichnet hatten, die Hände gebunden gewesen seien.

Inszeniert sich gerne als Deal-Maker: Donald Trump. Seine Impfstoffverhandlungen stießen jedoch auf Kritik.
Inszeniert sich gerne als Deal-Maker: Donald Trump. Seine Impfstoffverhandlungen stießen jedoch auf Kritik.

© REUTERS/Octavio Jones

„Trump hat einen Markt geschaffen, der auf Geheimniskrämerei und hohen Preisen beruht“, sagt einer und fügt hinzu, dass die entscheidende Variable für die EU-Delegation eher die Geschwindigkeit als die Preise gewesen sei, und das inmitten kostspieliger Sperrfristen. „Big Pharma“, wie die großen Unternehmen im Branchenjargon genannt werden, „sind sehr gut darin, Druck zu machen“, sagt ein anderer Verhandler.

Demnach hätten einige Unternehmen ursprünglich sogar das Vierfache des später vereinbarten Preises gefordert. „Wenn du ihre Verträge nicht unterschreibst, werden es andere tun“, habe es geheißen. Mehr Transparenz hätte die Europäer gegenüber ihren internationalen Konkurrenten in die Enge getrieben, argumentieren beide.

Hat die EU zu viel gezahlt?

„Das ganze System beruht auf der Annahme, dass man durch Geheimhaltung mehr Preiswettbewerb erhält“, sagt Richard Bergström. „Sowohl die Industrie als auch die Öffentlichkeit glauben, dass es besser ist, weil jeder bessere Angebote bekommt.“ Außerdem wäre die Rechnung viel höher ausgefallen, wenn die Mitgliedstaaten sich nicht zusammengetan hätten, sagt der ehemalige Berater der Weltgesundheitsorganisation und Generaldirektor des Europäischen Verbandes der Pharmazeutischen Industrie.

Das ganze System beruht auf der Annahme, dass man durch Geheimhaltung mehr Preiswettbewerb erhält.

Richard Bergström, Impfstoffkoordinator der schwedischen Regierung

NGOs finden nun, die EU habe zu viel für die Impfstoffe gezahlt. Auf rund 31 Milliarden Euro taxiert die People’s Vaccine Alliance, ein Bündnis von mehr als 70 humanitären Organisationen, die Summe. Das Bündnis beruft sich auf eine Studie des Imperial College London.

Darin kamen die britischen Forscher zu dem Ergebnis, dass eine Dosis der mRNA-Impfstoffe in Massenproduktion für nur 1,18 bis 2,85 US-Dollar hergestellt werden kann. Moderna würde so einen Gewinn pro Impfung von 794 Prozent erzielen und Pfizer/Biontech von über 1.838 Prozent. Biontech und Moderna waren für eine Stellungnahme dazu nicht zu erreichen.

Biontech kurbelt die deutsche Wirtschaft an

Zusammengenommen haben die drei Unternehmen in den Jahren 2021 und 2022 einen Umsatz von über 60 Mrd. Dollar erzielt. Biontech allein könnte die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr um 0,5 Prozent ankurbeln. Aus Sicht des Unternehmens kommt der hohe Preis damit auch der Gesellschaft zugute. „Unser Weg, die staatliche Förderung zurückzuzahlen, ist es, Steuern zu zahlen“, sagte Biontech-Gründer Ugur Sahin der „Zeit“. „Allein im ersten Quartal dieses Jahres haben wir mehr als 500 Millionen Euro Unternehmenssteuern gezahlt.“ Von den Millionen Toten, die der Impfstoff wohl verhindert hat, einmal ganz abgesehen.

Trotz eines schleppenden Starts sind laut Angaben der EU-Kommission inzwischen mehr als 70 Prozent der erwachsenen Europäer geimpft worden. „Wir haben es richtig gemacht, weil wir es auf europäische Weise gemacht haben“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union letzte Woche.

Die Frage der Patentaufhebung

Ein Makel in der Bilanz: Von der Leyen gab auch zu, dass nur weniger als ein Prozent aller weltweiten verkauften Impfdosen in Ländern mit niedrigem Einkommen verabreicht wurden. Dies sei ein Verrat am Mandat der EU, „Impfstoffe als globale öffentliche Güter zu fördern“, sagt Ellen ‘t Hoen, die seit Jahren zu geistigem Eigentum arbeitet und den Thinktank „Medicines, Law and Policy“ leitet. Die EU hatte sich eigentlich verpflichtet, in diesem Jahr 200 Millionen Impfdosen zu spenden.

Zudem will sie drei Milliarden Euro an Covax zahlen, ein Programm zur Verteilung von Impfstoffen an ärmere Länder. Zugleich weigern sich aber die EU-Regierungen, anders als die USA, eine Patentverzichtserklärung zu unterstützen, die Südafrika und Indien bei der Welthandelsorganisation (WTO) beantragt haben.

Demonstranten für eine Aufhebung des Patentschutzes Anfang September in Berlin.
Demonstranten für eine Aufhebung des Patentschutzes Anfang September in Berlin.

© imago images/IPON

Mit einem entsprechenden Beschluss der WTO würden die Beschränkungen des geistigen Eigentums vorübergehend augehoben und die Pharmaunternehmen dazu gezwungen, das Know-how über ihre Produkte weiterzugeben, sodass auch andere Hersteller das Angebot weltweit ausweiten könnten. „Die EU hat es an echter Solidarität fehlen lassen“, sagt Ellen ‘t Hoen. „Was ist aus dem Grundsatz geworden, dass niemand sicher ist, bevor nicht alle sicher sind?“

UN-Unterstaatssekretärin Winnie Byanyima erklärte gegenüber Investigate Europe, dass die Initiative Covax bisher lediglich 42 Millionen Dosen nach Afrika geliefert hat und damit weit unter dem Ziel von 700 Millionen Dosen bis Ende des Jahres liegt. Teilnehmer der Verhandlungen mit den Herstellern bestätigen, dass die Versorgung dritter Staaten keine Priorität in den Gesprächen hatte.

Ohne Beteiligung der USA und Chinas hätte eine solche Strategie aber auch keinen Sinn ergeben. Die Europäische Kommission lehnte es ab, sich zu den Vertragspreisen zu äußern, bekräftigte jedoch ihr Engagement für eine globale Zusammenarbeit. In einer Erklärung sagte sie: „Rund 236 Millionen Dosen wurden von Covax an 139 Länder geliefert. Dies ist eine großartige kollektive Leistung.“

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