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© imago images/CSP_kryzhov

Warum Infektionen noch immer übersehen werden: Das verzerrte Bild von HIV und Aids

HIV-Infektionen werden auch heute oft zu spät erkannt - weil viele Menschen denken, sie könnten gar nicht betroffen sein.

Eine Tablette am Tag muss Hildegard W. nehmen. Ansonsten spielt die Infektion im Leben der 74-Jährigen keine große Rolle. „Ich kann natürlich nicht mehr alles machen, was ich früher gemacht habe. Das liegt aber an meinem Alter. Meine HIV-Infektion schränkt mich in meinem Leben gar nicht ein.“

Auch darüber, dass sie andere Menschen anstecken könnte, muss sich Hildegard keine Sorgen machen. Denn dank der richtigen Behandlung ist die Viruslast bei ihr so niedrig, dass sie unter der Nachweisgrenze liegt.

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Dass Hildegard HIV-positiv ist, erfuhr die Wahl-Lübeckerin vor 25 Jahren, als sie Blut spenden wollte. Nach der Entnahme bekam sie einen Brief, in dem stand, dass etwas mit ihren Werten nicht stimme. „Ich dachte, es geht um meinen Blutdruck oder meine Eisenwerte“, erklärt Hildegard. „Als der Arzt mir dann sagte, dass ich wahrscheinlich HIV-positiv bin, war ich schockiert; damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet.“

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Infiziert als heterosexuelle Frau? Das kam ihr nicht in den Sinn

Denn HIV, so dachte Hildegard damals, sei etwas, dass nur schwule Männer oder drogenkonsumierende Menschen bekommen. Dass sie sich als heterosexuelle Frau in einer monogamen Beziehung infizieren könnte, kam ihr nicht in den Sinn. Auch ihr damaliger Partner, der das Virus an Hildegard weitergegeben hatte, ahnte bis zur Diagnose seiner späteren Ehefrau nichts von seiner Infektion.

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„Weil HIV auch heute noch als eine Infektion sogenannter Risikogruppen angesehen wird, denken viele Menschen, dass sie nicht betroffen sein können“, erklärt Holger Wicht, Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe. Zwar sind statistisch gesehen beispielsweise homosexuelle Männer im Vergleich zu heterosexuellen Männern überproportional von HIV betroffen. „Aber natürlich infizieren sich auch Heterosexuelle“, sagt Wicht.

HIV ist heute noch immer mit Tabus besetzt - umso wichtiger ist Sichtbarkeit wie an diesem Mittwoch am Weltaidstag.
HIV ist heute noch immer mit Tabus besetzt - umso wichtiger ist Sichtbarkeit wie an diesem Mittwoch am Weltaidstag.

© Imago/Zuma Wire

HIV- und Aids-Infektionen oft erst Jahre später erkannt

Dieses verzerrte Bild von HIV und Aids sei einer der Gründe dafür, dass so viele Diagnosen in Deutschland erst Jahre nach der Infektion getroffen würden. Im Jahr 2020 wurden laut Robert-Koch-Institut rund 35 Prozent der HIV-Neuinfektionen erst mit fortgeschrittenem Immundefekt und etwa 18 Prozent mit Vollbild Aids diagnostiziert. Insgesamt haben sich im vergangenen Jahr rund 2000 Menschen mit HIV infiziert.

Die späten Diagnosen haben allerdings nicht nur etwas mit der Unwissenheit der Patient:innen zu tun. „Viele Ärztinnen und Ärzte fühlen sich damit überfordert, das Sexualleben ihrer Patientinnen und Patienten zu thematisieren“, erklärt Wicht. Dies sei erst recht so, wenn sie eine ältere Frau behandelten. „Da besteht oft die Angst, dass diese Person es als Affront auffassen könnte, auf das Thema HIV angesprochen zu werden. Erst recht wenn diese angibt, dass sie in einer monogamen Beziehung lebt.“

Das führe dazu, dass Menschen mit unspezifischen Symptomen oftmals jahrelang durch Praxen und Ambulanzen tingelten. „Der HIV-Test wird oftmals erst gemacht, wenn bereits schwerwiegendere Erkrankungen aufgetreten sind“, sagt Wicht. Dabei sollte spätestens dann ein HIV-Test gemacht werden, wenn Symptome auf ein geschwächtes Immunsystem hindeuten – etwa Pilzbefall im Mund oder starker Gewichtsverlust.

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Damit es gar nicht erst soweit kommt, plädiert Caroline Isner für flächendeckende Testungen. „Ein HIV-Test sollte bei einer Blutabnahme genauso zur Routinekontrolle gehören wie eine Pulsmessung oder eine Kontrolle der Cholesterinwerte“, sagt die Chefärztin für Innere Medizin am Berliner Auguste-Viktoria-Klinikum.

Dabei spiele es keine Rolle, ob die Person heterosexuell oder homosexuell sei, Drogen konsumiere oder nicht. Denn Isner sagt: „Jeder sexuell aktive Mensch gehört zur Risikogruppe.“ Angst vor HIV müsse heute trotzdem niemand mehr haben: „Personen, bei denen HIV rechtzeitig diagnostiziert und behandelt wird, haben die gleiche Lebenserwartung wie Menschen ohne HIV“, erklärt Isner.

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Bei Hildegard war es nach der Blutabnahme eher Glück im Unglück, dass das Virus rechtzeitig entdeckt wurde. Doch die 74-Jährige ist ein Paradebeispiel dafür, wie wichtig eine Früherkennung ist. Denn auch 25 Jahre nach ihrer Diagnose hat Hildegard nicht mit Folgekomplikationen zu kämpfen. Vielmehr beschäftige sie das Stigma, das auch heute noch mit einer HIV-Infektion einhergehe.

HIV, noch immer ein Tabuthema

Zwar habe sich in 25 Jahren vieles verbessert. Anfang der Neunziger wollten sie selbst viele Ärzt:innen aus Angst vor einer Übertragung nicht behandeln. Aber auch heute konfrontiere sie das ärztliche Personal mit Vorurteilen und Klischees. „Man schätzt mich als Mutti, als Hausfrau ein und versteht dann nicht, wie so jemand wie ich HIV haben kann.“

Zudem bleibe HIV in der Gesellschaft oft ein Tabuthema. Auf einem CSD-Marsch habe sie einmal ein T-Shirt getragen mit der Aufschrift: „Mein HIV-Status? Frag mich doch!“. „Vor allem Menschen meiner Alterskohorte sagten mir, dass man über sowas doch nicht rede.“

Dabei sei ein offener Umgang mit HIV wichtig – darin sind sich Wicht, Isner und Hildegard einig. Denn nur so könne eine Atmosphäre geschaffen werden, in der das Virus seinen Schrecken verliert und Diagnosen nicht mehr zu spät gestellt werden.

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