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Was wir fürs Leben mitbekommen und was wir weitergeben: Geschichten vom „Erbonkel“, jeden Sonntag im Tagesspiegel.

© Lisa Rock für den Tagesspiegel

„Der Erbonkel“: Was die Fünf in Mathe mit der Venusfliegenfalle zu tun hat

Es ist Zeugniszeit und damit Saison für laute Seufzer von Eltern über schlechte Mathenoten ihrer Sprößlinge. Dabei haben sie womöglich ein Stück weit dazu beigetragen.

Eine Kolumne von Sascha Karberg

Was hat die „5“ in Mathe auf dem Zeugnis mit einer sehr hungrigen Venusfliegenfalle zu tun, dieser fleischfressende Pflanze, die in sumpfigen Gegenden wächst? Beide, die „5“ und der Hunger, können mit einer Rechenschwäche zu tun haben.

Fangen wir bei Dionaea muscipula an, bevor wir zu Homo sapiens kommen. Vor ein paar Jahren fand der Würzburger Biophysiker Rainer Hedrich heraus, dass die Venusfliegenfalle bis „5“ zählen kann. Was eher ungewöhnlich ist für Pflanzen, für diese Art aber überlebenswichtig. Sie muss in den kargen Sümpfen mit ihren zu Klappfallen umgebauten Blättern Fliegen oder andere kleine Insekten fangen, um ihren Nährstoffbedarf zu decken. Sobald spezielle Sinneshaare auf den Fallen berührt werden, klappen sie blitzschnell zu – aber sicherheitshalber erst bei zweiten Berührung. Die Pflanze kann also auch 1+1 rechen! Doch damit nicht genug. Die dritte, vierte und fünfte Berührung des zappelnden Insekts löst ein genetisches Programm aus, das dafür sorgt, dass die Falle verschlossen, Sekret produziert und weitere verdauungsrelevante Schritte eingeleitet werden.

Eine Pflanze, die das Zählen verlernte

Allerdings hat Hedrichs Kollege Sönke Scherzer inzwischen einen „5“er-Kandidaten unter den Venusfliegenfallen gefunden, dem Mathe nicht so liegt. Auf einer Pflanzenbörse bemerkte der Biologe, dass dessen Klappfalle schon am 1+1 scheitert und nicht mehr schließen. Auch bei weiteren Berührungen: Blackout. Offenbar liegt die Ursache in einer mutationsbedingte Rechenschwäche, einer Dyskalkulie. Dysc nannten die Forscher die Mutante.

Eine Pflanze, die zählen kann - und sich auch mal verrechnet: Die Venusfliegenfalle.

© promo

Zwar „rechnet“ die Pflanze, hirnlos wie sie ist, nicht im herkömmlichen Sinn. Doch in ihren Genen steckt ein Programm, dass auf eine Abfolge von Reizen so reagiert, als würde sie zählen.

Auch Homo sapiens läuft aber letztlich ein, weit komplexeres, genetisches Programm, das nicht nur ein Gehirn hervorbringt, sondern es auch zu Denkprozessen befähigt, die Zählen, Rechnen und Logik ermöglichen. Hunderte, tausende Gene müssen dafür zusammenspielen. Und all diese Gene sind von Mensch zu Mensch verschieden, je nachdem, welche Genvarianten die Eltern ihren Kindern vererbt haben.

Während in der Regel schon Babys intuitiv zählen können, etwa größere Mengen von kleineren unterscheiden, scheitern Kinder mit Dyskalkulie daran noch im Schulalter. Ursache können Mutationen sein, da Kinder mit Rechenschwäche oder „Zahlenblindheit“ statistisch überdurchschnittlich häufig Verwandte mit ähnlichen Problemen haben. Möglich sind aber auch schädliche Einflüsse (etwa Alkoholmissbrauch) während der Schwangerschaft, die die Gehirnentwicklung beeinträchtigen, oder Kopfverletzungen nach der Geburt. Die ständige „5“ in Mathe könnte also auch Anlass für genauere Nachforschungen sein.

Als Ausrede, sich in Mathe nicht anzustrengen, taugen die Gene für die meisten nicht: Nur drei, höchstens sechs Prozent der Schulkinder sind Schätzungen zufolge von einer genetischen Rechenstörung betroffen.

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