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Die Slawistik versucht die Ukraine neu zu verstehen – und wie sie ein Nationalbewusstsein entwickelte. Das Bild zeigt den Maidan während der Revolution 2014.

© dpa/Daniel Naupold

Der erste politische Emigrant der Ukraine: Ein Land neu denken

Die Slawistik versucht die Ukraine neu zu verstehen – und wie sie ein Nationalbewusstsein entwickelte. Ein Beispiel dafür: Mykhailo Drahomanov, der um 1870 die Ukraine als politische Nation vordachte.

In der Slawistik geht es um die Sprachen und die Literatur Ost- und Mitteleuropas – so war man sich immer einig. Mit dem Angriffskrieg Russlands auf die gesamte Ukraine ändert sich auch das Selbstverständnis des Faches, weg von der Fokussierung auf das Russische. So können Studierende an der Humboldt-Universität seit 2022 Ukrainisch als erste oder zweite Sprache wählen.

Die HU-Slawistik geht mit Bezug auf die Ukraine jetzt noch einen Schritt weiter: Sie will sich nicht mehr nur auf die Philologie beschränken. Denn allein Kenntnis von Sprache und Literatur reiche nicht aus, um die Ukraine mit ihrer komplizierten historischen Vergangenheit zu verstehen.

Die Ukraine soll neu gedacht werden: So lautet auch der Titel einer Vorlesungsreihe, die für diesen Ansatz steht und die sich auch an die Öffentlichkeit wendet. Gerade präsentierte etwa Ostap Sereda, Professor an der Central European University in Wien, eine wichtige Geschichtsetappe: die politischen Diskussionen in der Ukraine in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts. In den Mittelpunkt stellte er dabei die zentrale Figur dieser Epoche, den Denker und gesellschaftlichen Aktivisten Mykhailo Drahomanov.

Drahomanow steht für einen ukrainischen nicht-nationalistischen Denker. „Seine Persönlichkeit zerstört viele Stereotypen in der Wahrnehmung der Ukraine“, bemerkt die Historikerin Tetiana Portnowa, die DFG-Fellow an der Uni Potsdam ist. Deshalb dürfte er für deutsche Slawisten und Historiker von besonderem wissenschaftlichen Interesse sein.

Über Mykhailo Drahomanov (1841-1895) ist in Deutschland fast nichts bekannt. Ebenso wie über viele andere ukrainische Persönlichkeiten, die die Herausbildung der ukrainischen politischen Nation beeinflusst haben. Bei der Planung von thematischen Vortragsreihen stehen die Organisator:innen daher immer vor der schwierigen Wahl, über wen sie zuerst berichten wollen.

Konzepte der unabhängigen Ukraine entstanden später

„Der Vortrag über Drahomanov und seine Zeitgenossen hilft wirklich, den Kontext der aktuellen Ereignisse zu verstehen“, sagt Susanna Frank, Professorin am Institut für Slawistik und Initiatorin der Reihe. Mit Drahomanov beginnt die Entwicklung des ukrainischen Nationalbewusstseins. Damals war ein großer Teil der Ukraine Teil des Russischen Reiches, ohne jegliche Autonomierechte. Drahomanov war ein glühender Verfechter der Idee, Russland zu föderalisieren und dabei die westlichen Erfahrungen beim Staatsaufbau zu berücksichtigen. Auf diese Weise sollte Russland letztlich europäisiert werden.

Die Konzepte der unabhängigen Ukraine, bis hin zu einem integralen Nationalismus, entstanden erst später. Drahomanow hatte keinen Nationalstaat im Sinn. Er sah die Ukraine als Mitglied einer Föderation, die anstelle des russischen und österreichisch-ungarischen Imperiums in Osteuropa entstehen sollte.

„Er war ein Mann mit ukrainischer Identität, aber er wollte nicht mit der russischen Kultur brechen“, sagt Ostap Sereda. Deshalb kritisierten ihn spätere Generationen ukrainischer Intellektueller, er sei zu gemäßigt und zu wenig ukrainisch orientiert.

Mit Mykhailo Drahomanov (1841-1895) beginnt die Entwicklung des ukrainischen Nationalbewusstseins.

© Wikipedia/gemeinfrei

Um 1870 klangen seine Ideen jedoch sehr kühn. Zumal es eine schwierige Zeit für die ukrainische Bewegung im Russischen Reich war. Ein Zaren-Erlass aus dem Jahr 1876 verbot den Druck von Büchern und Zeitungen in ukrainischer Sprache vollständig. Es wurde lebensgefährlich, sich in der Ukraine politisch zu engagieren. Mykhailo Drahomanow sah sich gezwungen, ins Ausland zu ziehen und war damit der erste ukrainische politische Emigrant.

Diese Emigration war im Grunde eine Geschäftsreise, die sich über Jahre hinzog. Er wurde von ukrainischen Intellektuellen, Mitgliedern der ukrainischen Vereinigung Hromada, ins Ausland geschickt. Drahomanow sollte in Österreich und dann in der Schweiz eine ukrainischsprachige Zeitschrift gründen, die frei von russischer Zensur war. Es war die erste unabhängige ukrainische Zeitschrift, sozusagen das Sprachrohr der halblegalen ukrainischen Bewegung.

Seine Erfahrungen in der Schweiz inspirierten ihn zu dem Gedanken, das Russische Reich in eine Föderation umzuwandeln. „Das war wahrscheinlich eine naive Utopie“, sagt Sereda. „Aber es ist schade, dass diese Idee nicht verwirklicht wurde“. Wäre die Dezentralisierung Russlands damals gelungen, wären weder die Sowjetunion noch Putins Russland auf den Resten des Imperiums entstanden. Es war eine Chance für eine demokratische europäische Entwicklung, die damals vertan wurde.

Paradoxerweise könnten sich Drahomanows Ideen jedoch als relevant für die Zukunft Russlands in der Nachkriegszeit erweisen. Die Umwandlung Russlands von einem post-imperialen Gebilde in eine Föderation autonomer Staaten ist ein Thema, das früher oder später in Russland aufkommen könnte.

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