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Die Crauschrecke (Prionotropis rhodanica) ist durch Veränderungen in der Weideviehhaltung in Südfrankreich vom Aussterben bedroht.

© CC0/Axel Hochkirch

Europas Rote Liste ist zu kurz: Jede fünfte Art vom Aussterben bedroht

Vor allem die Landnutzung in Europa gefährdet Pflanzen und Tiere. Der Weltbiodiversitätsrat könnte laut einer neuen Studie die weltweite Bedrohung der Artenvielfalt deutlich unterschätzen.

Rund jede zehnte Art der Land-, Süßwasser- und Meereslebewesen Europas wird auf der Roten Liste bedrohter Arten geführt. Nicht für alle wird die Lage als ernst eingestuft, die Kategorien der Liste reichen von „ausgestorben“ bis „nicht gefährdet“ oder auch „nicht beurteilt“ oder „ungenügende Datengrundlage“.

Nach einer Analyse der 14.669 Einträge für Europa – etwa zehn Prozent der heimischen Pflanzen- und Tierwelt – kommt ein großes Forschungsteam jedoch zu einer neuen Einschätzung. Wie die Autor:innen um Axel Hochkirch vom Naturkundemuseum Luxemburg und der Universität Trier jetzt im Journal „Plos One“ berichten, sind 19 Prozent der europäischen Arten, insgesamt über 2800 der untersuchten Arten, vom Aussterben bedroht und fielen damit in die dritthöchste Gefährdungskategorie der Roten Liste.

Hauptgefahr Landnutzung

Bei Pflanzenarten beträgt der Anteil 27 Prozent. In der riesigen Gruppe der Wirbellosen – Tieren wie Würmern, Schnecken, Spinnen und vor allem Insekten – liegt der Anteil bei 24 Prozent. Wirbeltiere liegen mit 18 Prozent leicht darunter. Hauptgefährdungsursache ist nach Einschätzung des Forschungsteams die landwirtschaftliche Umgestaltung von Lebensräumen. Dazu kommen die Übernutzung biologischer Ressourcen, Umweltverschmutzung und die Bebauung von Gebieten.

Für die Arten Europas zeige die neue Studie nun „erheblich schärfer und umfassender als zuvor“, dass deutlich mehr Arten vom Aussterben bedroht sind, als auf der Roten Liste in dieser Kategorie geführt werden, sagt Matthias Glaubrecht, Biodiversitätsforscher an der Universität Hamburg dem Science Media Center Deutschland. „Das macht die Dimension und zugleich die Dringlichkeit eines verbesserten Schutzes insbesondere der immer weiter schwindenden Lebensräume dieser Arten mehr als deutlich.“ So alarmierend die Befunde auch seien, die Studie liefere eine wichtige verbesserte Datengrundlage.

Für die aktuelle Auswertung analysierte das Team um Axel Hochkirch europäische Tier- und Pflanzenarten, die auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN geführt werden. Sämtliche Wirbeltiere wie Amphibien, Vögel und Säugetiere sowie funktionell wichtige wirbellose Tiergruppen wie etwa alle Bienen, Schmetterlinge, Libellen und Heuschrecken wurden berücksichtigt. Von den bekannten Pflanzenarten Europas wurden zwölf Prozent einbezogen, einschließlich aller Farne, Bäume und Moose.

Weltweite Rückschlüsse

Während Naturschutzmaßnahmen oft auf Wirbeltiere abzielen, legt die neue Analyse nahe, dass man diesen Fokus verlagern sollte. Der Anteil der vom Aussterben bedrohten Wirbellosen übersteigt die jüngsten Schätzungen des Weltbiodiversitätsrates (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, IPBES) noch deutlicher als der der Wirbeltiere.

Die globale IPBES-Bestandsaufnahme von 2019 gelangte zur Abschätzung, dass weltweit etwa eine Million von insgesamt geschätzten acht Millionen Arten bedroht ist. Seither wurden neue Daten veröffentlicht, auch zu zuvor nicht berücksichtigten Pflanzen und Tieren. Die neue Analyse für Europa deutet darauf hin, dass weltweit zwei Millionen Pflanzen- und Tierarten vom Aussterben bedroht sind – doppelt so viele wie vom IPBES geschätzt.

Die Abweichung erklärt Carl Beierkuhnlein, Leiter des Lehrstuhls Biogeographie an der Universität Bayreuth so: „Weite Bereiche europäischer Landschaften sind immer noch zunehmenden Landnutzungsintensivierungen ausgesetzt.“ Die Fragmentierung von Lebensräumen, Zusammenlegung von Anbauflächen, Agrarchemikalien, Gülle, und Maßnahmen wie Grünland mehrfach im Jahr zu mähen verurteilten die Naturschutzbemühungen auf den teils winzigen Restflächen zum Scheitern. „Da sich solche Entwicklungen auch auf anderen Kontinenten abspielen, ist auch dort mit weiteren Biodiversitätsverlusten zu rechnen“, sagt Beierkuhnlein.

Raum für Naturschutz

„Europa ist eine jener Regionen der Erde, für die wir noch die besten Daten haben“, sagt Matthias Glaubrecht. In anderen, darunter auch weit artenreicheren, Weltregionen stelle sich die Biodiversitätskrise sehr wahrscheinlich noch deutlich brisanter dar. „Insbesondere in den nach wie vor unzureichend erforschten Tropengebieten, etwa in Asien und Afrika“, sagt der Biodiversitätsforscher. „Wir haben also ein ungeheures Datenerfassungsproblem.“

Es sei eine der Krisen der Artenvielfalt, dass zu wenig systematische und ökologische Forschung im Bereich menschlicher Lebensgrundlagen betrieben werde. „Wir wissen zu wenig über alle diese Arten, um ihr Verschwinden lange überhaupt bemerkt zu haben“, sagt Glaubrecht. Arten würden schneller vernichtet als sie erforscht werden könnten. „Die Studie belegt, was auf dem Spiel steht – das Überleben vieler Arten, die auch wir zum Überleben brauchen.“

Ende 2022 wurde in der Abschlusserklärung der Kunming-Montreal-Konferenz (COP15) das Ziel formuliert, das vom Menschen verursachte Aussterben von Arten bis zum Jahr 2030 zu stoppen und bis 2050 die Aussterberate und das Risiko für alle Arten um das Zehnfache zu reduzieren. „Unsere Antwort muss der Flächenschutz sein, Naturschutzgebiete mit hohem Schutzstatus“, fordert Glaubrecht.

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