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Mit elektrischen Impulsen steuern Nervenzellen Muskelzellen und damit der Mensch seinen Körper.

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Korrekturen an Chromosom 4: Gentherapien sollen Huntington-Krankheit verhindern

Unternehmen und Forschende arbeiten an Gentherapien gegen Chorea Huntington. Rund 10.000 Betroffene des seltenen Erbleidens gibt es hierzulande. Können sie auf Heilung hoffen?

Es ist immer das Schicksal einer ganzen Familie, das auf den Kopf gestellt wird, wenn der Neurologe Björn Falkenburger vom Universitätsklinikum Dresden jemandem über die Veranlagung für das Erbleiden Chorea Huntington informieren muss. Der oder die Betroffene wird krank werden, ungefähr ab der Lebensmitte. Den genauen Zeitpunkt kennt auch Falkenburger nicht.

Natürlich, man kann mit dem schweren Nervenleiden zufrieden leben, tröstet der Neurologe. Er weiß, dass die Vorstellung von der Krankheit erst einmal ein schwerer Schlag ist: dass sich Bewegungen nach und nach schlechter koordinieren lassen, dass Arme, Hände und Beine rucken oder reglos werden. Viele Betroffene entwickeln mit der Zeit auch depressive Züge. Allmählich kommt bei einigen eine Demenz hinzu. Spätestens, wenn die Nervenzellen im Gehirn so sehr geschädigt sind, dass die Erkrankten nicht mehr selbst schlucken können, brauchen sie die Pflege der Familie.

Ein einziges verändertes Gen ist für das Erbleiden Chorea Huntington verantwortlich, das wegen der ruckenden Bewegungen auch „Veitstanz“ genannt wird. Zwar haben wir von jedem Gen zwei Kopien und eine funktionstüchtige kann eine defekte ersetzen, doch Huntington bricht schon aus, wenn nur eine defekte Kopie vorliegt. Das veränderte Gen produziert das Protein Huntingtin in längerer Form. Mutmaßlich führt das direkt oder indirekt zum Untergang von Nervengewebe.

Schützende Ungewissheit

Nicht selten sind Schicksale wie das einer Familie, das Falkenburger einordnet: Die beiden Töchter haben selbst bereits Kinder, als sie erfahren, dass es sich bei der fortgeschrittenen Krankheit ihres Vaters um Chorea Huntington handelt. Beunruhigt lassen sie ihr Erbgut testen. Die eine trägt das krankmachende Gen nicht, ihre Schwester schon.

Vom Tag dieser Erkenntnis an verändert sich das gesamte Leben der Familie. Die Frau, die erkranken wird, entscheidet sich gegen ein weiteres Kind. Die Frage nach einer Heilung und danach, ob auch ihr Nachwuchs betroffen ist, beschäftigt sie. Die internationale Vereinigung der Huntington-Selbsthilfeorganisationen und der Weltverband der Neurologen empfehlen jedoch ausdrücklich, Minderjährige nicht zu testen, da die Diagnose erhebliche seelische und soziale Folgen hat.

In den Nervenzellen Betroffener kann sich eine fehlerhafte Variante des Proteins Huntingtin (gelb) ansammeln.
In den Nervenzellen Betroffener kann sich eine fehlerhafte Variante des Proteins Huntingtin (gelb) ansammeln.

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Chorea Huntington war das erste Erbleiden, bei dem Forschende vor genau 30 Jahren das verantwortliche Huntingtin-Gen auf Chromosom Nummer 4 fanden. „Weil wir so viel über die Krankheit wissen, ist sie eine Modellerkrankung, an der wir für andere Erbleiden lernen“, sagt Falkenburger. Derzeit entwickeln viele Unternehmen und Forschende Gentherapien, um das betroffene Gen zu korrigieren. „Wenn das gelingt, könnte es nicht nur dieser Erkrankung den Schrecken nehmen, sondern die Behandlung vieler anderer genetisch bedingter Erkrankungen voranbringen.“

Optimismus trotz Fehlschlag

„Das Gen korrigieren“ – was einfach klingt, ist es in der Praxis ganz und gar nicht. Das verdeutlicht die klinische Studie, die am meisten Bewegung ins Feld gebracht hat – die „Generation HD1“-Studie des Pharmaunternehmens Roche. Mehr als 800 Patienten und Patientinnen sollten an der klinischen Studie der Phase III teilnehmen, also im besten Fall der Studie, die zur Zulassung einer Arznei führt.

Das Medikament, das den Erkrankten in das Nervenwasser des Rückenmarks gespritzt wurde, heißt „Tominersen“ und ist eine Form der Gentherapie. Tominersen ist wie ein kleines Stück DNA aufgebaut, und zwar in genau passender Form, sodass es an das Huntingtin-Gen bindet. Das funktioniert wie ein Reißverschluss, bei dem linker und rechter Strang sich aneinander fügen.

Wenn das veränderte Huntingtin-Gen mit Tominersen blockiert ist, wird es weniger abgelesen. Es entsteht weniger von dem verlängerten Huntingtin-Protein, wie Roche schon früher nachweisen konnte. „Die große klinische Studie hat Aufbruchstimmung ausgelöst“, sagt Falkenburger. Und das, obwohl sie gestoppt werden musste. Denn zur Enttäuschung aller Beteiligten verschlechterte sich der Zustand der Testpersonen sogar, die Tominersen in der höchsten Dosierung erhielten. Warum, ist bisher nicht ganz klar.

Trotz dieses Fehlschlags ist der Optimismus ungebrochen. „Wir alle spüren, dass das aufregende Zeiten sind. Dass wir dabei sein können“, sagt der Pathologe und Genforscher Ben Kleinstiver von der Harvard Medical School in Boston, der im vergangenen Jahr zum ersten Mal auf der internationalen Chorea Huntington Therapie-Konferenz im kalifornischen Palm Springs vortrug. „Es hat mich sehr beeindruckt, wie groß die Dynamik und der Zusammenhalt in der Community derzeit sind.“

Man kann Hoffnung machen, dass es künftig bessere Behandlungen geben wird.

Björn Falkenburger, Universitätsklinikum Dresden

Auch Roche hat keineswegs aufgegeben. Im Januar 2023 legte das Unternehmen in einem offenen Brief dar, dass eine Analyse der Daten aus der „Generation HD1“-Studie gezeigt habe, dass jüngere Betroffene in einem früheren Erkrankungsstadium bei niedrigen Dosen von der Tominersen-Gabe profitieren könnten. Es ist mittlerweile Praxis, dass Pharmaunternehmen ihre Daten daraufhin durchforsten, wem eine potenzielle Arznei doch nutzen könnte. In der gerade angelaufenen „Generation HD2-Studie“ wird das Medikament nun nochmals in niedriger Dosis bei jüngeren Huntington-Betroffenen getestet.

Drei weitere Unternehmen – Vico Therapeutics und uniQure aus den Niederlanden wie auch das US-Start-up Life Edit Therapeutics – setzen ebenfalls auf Gentherapien gegen die Huntingtonkrankheit. Bisher kann aber noch niemand die bahnbrechende klinische Studie vorweisen. Warum nicht?

Schwierige Behandlungsziele

Das größte Hemmnis: Die Huntington-Erkrankung ist eine Erkrankung, die sich in den Nervenzellen des Gehirns abspielt, vor allem dort ist das Huntingtin-Gen aktiv. Besonders betroffen sind die mittleren Stachelneuronen, die im Verlauf der Krankheit absterben, zunächst im Striatum, das unsere Bewegungen koordiniert. Nach und nach gehen sie aber auch im Cortex und im Hirnstamm unter, weshalb Stimmung und Kognition der Erkrankten schließlich leiden.

Ein Medikament ins Gehirn zu bringen, somit die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden, ist schon nicht leicht – eine Genkorrektur in den Nervenzellen des Gehirns ungleich schwieriger. „Dafür haben wir im Moment noch keine gute Lösung“, sagt Falkenburger. Tominersen wird behelfsweise ins Nervenwasser auf Höhe der Lendenwirbelsäule verabreicht, in der Hoffnung, dass es von selbst ins Gehirn wandert und dort wirkt.

„Bisher können wir Blut- und Leberzellen im Labor relativ effektiv gentherapeutisch korrigieren“, sagt Toni Cathomen, Direktor des Instituts für Transfusionsmedizin und Gentherapie an der Universität Freiburg. „Bei anderen Zellen ist es eine noch größere Herausforderung.“ Es gelingt bisher oft nur lokal und punktuell.

Lokal und punktuell wirkt auch eine der ersten zugelassenen Gentherapien überhaupt: Spinraza gegen die Spinale Muskelatrophie bei Kindern. Spinraza ist wie Tominersen ein DNA-Gegenstück, das an den krankmachenden Genabschnitt bindet. Und genauso wird es ins Nervenwasser des Rückenmarks verabreicht. Der Unterschied ist: Die Spinale Muskelatrophie ist ein Erbleiden, das sich vorrangig im Rückenmark abspielt. Das Medikament kann vor Ort wirken. „Die Arznei funktioniert recht gut und verzögert die Erkrankung“, berichtet Falkenburger von den Erfahrungen der letzten Jahre. Bei Chorea Huntington aber liegt der Schauplatz eine Armlänge entfernt, im abgeschotteten Gehirn.

Gefährliche Wiederholungen

Strittig ist auch noch, was genau bei der Therapie auf Chromosom Nummer 4 korrigiert werden muss. Im Code des gesunden Gens findet man die Abfolge CAG (für die Bausteine Cytosin, Adenin und Guanin), die sich bis zu 20 Mal wiederholt. Das krankhafte Huntingtin-Gen wächst im Laufe des Lebens, also im Verlauf der Zellteilungen, mehr und mehr CAG-Abfolgen kommen hinzu. Ab 40 Wiederholungen gilt es als sicher, dass die Person erkranken wird und je mehr CAG-Einheiten direkt aufeinander folgen, desto früher bricht die Krankheit aus.

Wenn die Kette der CAGs aber beispielsweise durch nur eine CAA-Sequenz unterbrochen ist, sind die Betroffenen länger gesund als andere. Das erklärt viele Unterschiede: Bei manchen bricht das Leiden im Alter von zwanzig Jahren aus. Andere spüren 65 Jahre nichts. Den Zusammenhang zwischen der CAG-Häufigkeit und dem Zeitpunkt des Ausbruchs konnte der kanadische Genetiker James Gusella vom Harvard Stem Cell Institute in eindrucksvollen Arbeiten zeigen.

Illustration: Die „gesunde“ Aminosäurekette des Huntingtins und eine verlängerte Form Betroffener mit zusätzlichen Glutamin-„Perlen“.
Illustration: Die „gesunde“ Aminosäurekette des Huntingtins und eine verlängerte Form Betroffener mit zusätzlichen Glutamin-„Perlen“.

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Ben Kleinstiver und sein Partner Jong Min Lee vom Center for Genomic Medicine der Harvard Medical School versuchen deshalb derzeit, in den Nervenzellen von Erkrankten im Labor ein CAG durch ein CAA auszutauschen oder die CAG-Wiederholungssequenz zu kürzen. Sie nutzen dafür die moderne Genschere CRISPR-Cas. Life Edit Therapeutics versucht das krankhafte Huntingtin-Gen ganz herauszuschneiden und die gesunde Kopie auf Chromosom 4 möglichst zu verschonen. Vico versucht, mit einem DNA-Gegenstück nur den Anfang der verlängerten CAG-Sequenz zu blockieren.

Andere verfolgen ähnliche Ansätze. Jedoch attackieren viele der Gentherapien auch das zweite, gesunde Huntingtin-Gen. Einige Forschende fürchten, das schade, weil es das unveränderte Huntingtin-Protein produziert, wie bei Gesunden.

Derr Genetiker Steven McCarroll, ebenfalls von der Harvard Medical School, berichtete im vergangenen Jahr auf der Huntington-Konferenz in Kalifornien, dass nur wenige Nervenzellen bei den Erkrankten sehr schnell eine riesige Zahl an CAG-Einheiten ansammeln. Müssten etwa nur diese „CAG-Rekordhalter“ gentherapeutisch korrigiert werden? Die Frage ist bislang offen.

Versuch, Irrtum und Solidarität

Allerdings lässt sich bislang nicht vollständig verhindern, dass dabei auch das zweite, gesunde Huntingtin-Gen angegriffen wird, wodurch die Gentherapie womöglich auch schaden könnte. Da aber so viele Unternehmen und Forschungsteams mit unterschiedlichen Ansätzen wetteifern, hoffen die meisten auf den Fortschritt durch Versuch und Irrtum.

Die Familien, die mit Chorea Huntington leben, hoffen inständig auf eine Gentherapie, nicht nur für sich, sondern auch für ihre Kinder. Falkenburger findet: „Man kann Hoffnung machen, dass es künftig bessere Behandlungen geben wird.“ Aber wann kommt die Genkorrektur? „Darauf würde ich gar nichts antworten“, meint Ben Kleinstiver energisch. „Das wäre unfair.“ Sensationelle Erfolge im Labor sagten nichts darüber aus, ob und wann eine Therapie verfügbar wird. Auf dem Weg dahin gibt es Rückschläge und Fortschritte. „Sie sind nicht vorhersagbar.“

Beide loben die große Solidarität der betroffenen Familien. Die Forschenden genießen die volle Rückendeckung der Erkrankten. „Das liegt daran, dass Huntington eine Familienkrankheit ist. Das bedingt einen enormen Zusammenhalt in den Familien mit der Forschung“, analysiert Falkenburger. Betroffene spenden nach ihrem Tod ihre Gehirne in beachtlicher Zahl, damit Fachleute die Krankheit besser verstehen. Viele Genträger und auch gesunde Familienmitglieder melden sich für klinische Studien. Wenigstens die Nachfahren sollen dem Fluch der Krankheit entkommen können.

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