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Zahlreiche Schülergruppen besuchen die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen in Oranienburg. Die historischen Orte der NS-Zeit interessieren junge Menschen besonders.

© picture alliance / dpa/Bernd settnik

Überraschend großes Interesse an der NS-Zeit: Jugend sucht intensive Auseinandersetzung mit deutscher Vergangenheit

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg sind für junge Menschen in Deutschland zentrale Referenzpunkte in der Erinnerungskultur, so eine Studie. Sie wünschen sich eine besondere Vermittlung der Inhalte.

Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg sind für junge Menschen in Deutschland ein besonders wichtiges Kapitel der Geschichte ihres Landes. Die NS-Zeit und der Krieg stellen für Jugendliche und junge Erwachsene zentrale Referenzpunkte in der Erinnerungskultur Deutschlands dar. Zu diesem Ergebnis kommt nun die Memo-Jugendstudie des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld.

In der Befragung gaben über 82 Prozent der jungen Erwachsenen an, dass sie die NS-Zeit historisch als besonders wichtig erachten; 63 Prozent haben sich demnach intensiv mit dieser Zeit auseinandergesetzt. Das sind zehn Prozentpunkte mehr als im Durchschnitt aller Altersgruppen.

Die Direktorin des Berliner Anne Frank Zentrums, Veronika Nahm, nannte es zur Vorstellung der Studie am Dienstag überraschend, dass fast jeder zweite befragte junge Mensch sich für die deutsche Geschichte interessiert, kritisch nachfragt und aus der Geschichte Bezüge zur Gegenwart herstelle.

„Sie wollen nicht unterhalten werden, sondern verstehen, wollen reale Orte kennenlernen und Bezüge zur Gegenwart herstellen“, ergänzte Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ).

Für die EVZ-Vorsitzende ist es auch ein wichtiges Ergebnis der Studie, dass 76 Prozent der befragten Jugendlichen widersprachen, dass man sich nicht länger mit Geschichte auseinandersetzen müsse, wohingegen das immerhin 57 Prozent der Allgemeinbevölkerung bejahten. „Das bedeutet, dass es für einen Großteil der befragten Jugendlichen keinen Schlussstrich gibt.“

82
Prozent der befragten jungen Erwachsenen sieht die NS-Zeit historisch als besonders wichtig

Faktoren wie Alter, Geschlecht oder Herkunftsgeschichte der Familie spielen bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus weniger eine Rolle als der eigene Bildungshintergrund und der Eltern. Rund drei Viertel der 16- bis 25-Jährigen hält die Auseinandersetzung mit diesem Teil der deutschen Geschichte für sinnvoll.  

Lückenhaftes Faktenwissen

Die Auswertung der Studie zeigt aber auch Lücken im Faktenwissen zur Zeit des Nationalsozialismus, so die Studienautoren. Demnach könne die Hälfte der befragten 16- bis 25-Jährigen den Zeitraum der NS-Herrschaft nicht korrekt benennen. Zum historischen Hintergrund der NS-Zeit wünschen sich die jungen Menschen laut der Auswertung Faktenwissen, historische Orte und Gegenwartsbezüge vermittelt zu bekommen. Dreiviertel der Befragten wünschen sich mehr Faktenwissen, 51 Prozent wollen historische Orte besuchen.

Unsere Befragung ergibt das Bild einer in weiten Teilen engagierten und interessierten Generation.

Jonas Rees, Studienautor, Universität Bielefeld

Die Memo-Jugendstudie hat sich mit verschiedenen Aspekten der gesellschaftlichen Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland befasst. Dazu wurden 3485 repräsentativ ausgewählte junge Menschen zwischen 16 und 25 Jahren im September und Oktober 2021 sowie 838 Teilnehmer:innen erneut im September 2022 online befragt.

Die Jugendstudie gilt als umfangreichste Studie ihrer Art und erweitert die bisherigen fünf Memo-Erhebungen (2018-2022) um die Gruppe der jungen Erwachsenen. Die Befragung wurde von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) gefördert.

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Historisches und politisches Desinteresse werde jungen Erwachsenen häufig unterstellt, so Studienautor Jonas Rees von der Universität Bielefeld. „Unsere Befragung ergibt jedoch das Bild einer in weiten Teilen engagierten und interessierten Generation.“

Die Beschäftigung mit der NS-Zeit fördere bei den jungen Menschen das gesellschaftliche Engagement. „Die Studie zeigt das Bild einer engagierten, interessierten und sensibilisierten jungen Generation.“ Nur 17,5 Prozent gaben an, wenig oder gar nicht an Geschichte interessiert zu sein. „Hier ist von Geschichtsverdrossenheit oder Desinteresse, wie manchmal unterstellt wird, gar keine Spur“, sagte Rees.

Gleichzeitig zeigen sich aber systematische Lücken bei ganz grundlegendem Wissen um historische Fakten. So können 17 Prozent der Befragten kein Konzentrationslager beim Namen nennen und zehn Prozent kannten keine der Opfergruppen.

Geschichstvermittlung: Marzahner Schüler hatten das Leben des schwedischen Diplomaten Raoul Wallenbergs erforscht, der 100.000 Juden das Leben rettete.

© Mike Wolff TSP

„Als Gesellschaft wären wir gut beraten, die Gruppe der jungen Erwachsenen als zukünftige Träger:innen von Erinnerungskultur ernst zu nehmen“, so Rees. Viel zu oft werde über Jugend gesprochen, „sie selbst kommen leider zu selten zu Wort“, bemängelte er. Am Stellenwert der Erinnerung an die NS-Verbrechen lasse sich nicht nur ablesen, was wir kollektiv erinnern, „sondern auch, was wir kollektiv vergessen.“

Das größte inhaltliche Interesse hatten die Befragten an den gesellschaftlichen Umständen der NS-Verbrechen und der Rolle und Verantwortung der vermeintlich unbeteiligten deutschen Bevölkerung (35 Prozent). Die Fragen, ob die Bevölkerung damals tatsächlich so wenig über die NS-Verbrechen wusste und wie Gesellschaft Verbrechen zulassen konnte, sind bei den jungen Menschen demnach auch heute noch von Bedeutung.

Booster für Solidarität und Demokratie

Die Ergebnisse liefern aus Sicht der Studienautor:innen auch neue Ansätze für die Bildungsarbeit. „Geschichtsvermittlung ist ein Booster für Solidarität und Demokratie“, sagte Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende der EVZ-Stiftung.

Für einen Großteil der befragten Jugendlichen gibt es keinen Schlussstrich.

 Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende der EVZ-Stiftung

Die Stiftungsvorsitzende empfiehlt daher interaktive und partizipative Angebote für Geschichtsvermittlung – innerhalb und außerhalb der Schule. „Wer sich mit Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung durch die Nationalsozialisten auseinandersetzt, schaut sensibilisierter auf Diskriminierung heute“, so Andrea Despot.

Immerhin 60 Prozent der Befragten hatten angegeben, durch die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte für Themen wie Ausgrenzung und Diskriminierung sensibilisiert worden zu sein. Die Memo-Studie ergab auch, dass sich viele der Befragten politisch nicht gehört und repräsentiert fühlen. Dem könnten partizipative Vermittlungsformen entgegenwirken, meint die EVZ-Vorsitzende Despot.

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Aus der Befragung geht zudem hervor, dass jeder dritte junge Mensch in Deutschland sich im Alltag selbst schon diskriminiert gefühlt hat. Das betrifft demnach insbesondere junge Menschen mit Migrationsbiografien, aus einkommensschwachen und bildungsfernen Familien. 44 Prozent der Befragten fühlen sich zudem politisch nicht repräsentiert.

Dass die jungen Menschen Ausgrenzung sensibler wahrnehmen als Allgemeinbevölkerung, hob EVZ-Vorsitzende Despot hervor. Auch gebe es bei der Jugend gegenwärtig eine große Empathie mit der Ukraine, allerdings würden daraus keine Bezüge zu einer historischen Verantwortung abgeleitet.

Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland zeigen sich die 16- bis 25-Jährigen mit rund 62 Prozent der Befragten mehrheitlich besorgt, rund ein Drittel von ihnen nimmt demnach keinen Zusammenhalt in der Gesellschaft wahr (34 Prozent).

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