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Praktikant Florian Müller und ein Zwölfjähriger im Berliner Notdienst in der Gitschiner Straße

© David Heerde/David Heerde

„Es gibt hier alles an Schicksalen“: Für manche Berliner Kinder ist die Nothilfe die letzte Rettung

Im Juni schrieben Mitarbeiter des Kindernotdienstes einen Brandbrief an die Politik, in dem sie von Gewalt und Personalmangel berichteten. Was hat sich seither verändert?

Die Würfel zeigen elf, das bedeutet Schloßalle, die teuerste Straße bei „Monopoly“. Schloßallee, das könnte bitter werden. Aber der Zwölfjährige, der eine Kappe trägt, die Warzenschwein Pumbaa aus „König der Löwen“ darstellt, der schiebt seine Figur locker zu der noblen Adresse. Die Straße gehört ja ihm, kein Problem also. Fast triumphierend fixiert er kurz Florian, seinen 19-jährigen Mitspieler.

Sie sitzen an einem Holztisch, es ist elf Uhr vormittags. Nur der Ort hebt das Spiel aus einer gewöhnlichen Alltagsszene: Die beiden sitzen im Gemeinschaftsraum des Kindernotdienstes, Gitschiner Straße, Berlin-Kreuzberg.

Der Zwölfjährige lebt seit fünf Monaten hier. Abgelehnt von seiner Mutter, die das Sorgerecht für ihren Sohn abgegeben hat, unerwünscht bei seinem Vater, der ihn nicht zu Hause haben möchte, aufgefangen im weichen Netz der Sozialarbeiter des Kindernotdienstes, brennend erfüllt von einem sehnlichen Wunsch: .Er möchte wieder nach Hause. Stattdessen sucht man für ihn eine Einrichtung, in der er intensivpädagogisch betreut wird. Florian, seit Mitspieler, ist Praktikant im Notdienst.

Alexandra Haberecht steht hinter den Monopoly-Spielern, sie leitet den Kindernotdienst seit einigen Wochen. „Was den Bedarf betrifft, können wir nicht jedes Kind auf den für ihn sehr geeigneten Platz verteilen“, sagt die Sozialarbeiterin.

Der Brandbrief war eine Anklage des Schreckens

Dieses Problem stand auch auf der Liste eines Brandbriefs, den Mitarbeiter des Kindernotdienstes im Juni an die Berliner Familiensenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) geschickt haben. Eine Anklage des Schreckens: Personalmangel, Selbst- und Fremdverletzung von Kindern und Jugendlichen, sexualisierte Übergriffe, Kinder, die sich mit spitzen Gegenständen und Messern gegen andere Kinder wehrten, die Polizei als Dauergast.

Was hat sich seither getan? „Sehr viel hat sich getan“, sagt Falko Liecke (CDU), der Jugendstaatssekretär. „Es war eine extrem schwierige Situation, sie war emotional hoch aufgeladen.“ Liecke ist an diesem Tag vor Ort, ebenso wie Katharina Günther-Wünsch; die Senatsbildungsverwaltung will öffentlich die Änderungen in der Gitschiner Straße präsentieren. Sie will aber auch das gesamte System der Kinder- und Jugendnothilfe zeigen.

Der Kinder- und Jugendnotdienst umfasst drei Einrichtungen

Die Gitschiner Straße ist nur ein Teil davon. Der Mädchen- und Jugendnotdienst in Charlottenburg und die Kontakt- und Beratungsstelle (KuB) in Kreuzberg gehören auch dazu.

Alexandra Haberecht deutet mit einer flüchtigen Handbewegung in den Raum. „Sie sehen ja, was los ist“, sagt sie. Nichts ist los. Im Nebenraum reden zwei Sozialarbeiter mit einem etwa achtjährigen Mädchen, auf dem Spielplatz toben vergnügt kleine Kinder. Es hat sich alles entspannt, das will sie damit sagen.

Die Kinder sind jetzt nach Altersgruppen getrennt, das verhindert aggressive Attacken von Älteren auf Jüngere, aus der Senatsbildungsverwaltung sind ausgebildete Sozialarbeiter zur Unterstützung gekommen, auch zwei zusätzliche Träger stellen Personal. Und was die Polizeipräsenz betrifft: „Es ist fraglich, ob man immer die Polizei hätte rufen müssen, man kann Dinge auch pädagogisch lösen“, sagt Haberecht.

In Rahnsdorf wird im September eine weitere Einrichtung eröffnet

Die Frage der fehlenden Plätze für Jungen wie den Zwölfjährigen mit dem Warzenschwein-Käppi wird ab September in Rahnsdorf zumindest teilweise gelöst. Dort wird eine Einrichtung mit zehn Plätzen eröffnet, für Jugendliche, die auf einen für sie optimal passenden Platz warten. In dieser Übergangsphase werden sie intensiv pädagogisch betreut, besser als bisher.

Der Brandbrief ist nicht zielorientiert, ich hätte ihn nie geschrieben.

Anna-Lena Iselhorst, Leiterin des Jugend- und Mädchennotdienstes

Sie sollen dort mehr zur Ruhe kommen als es in der Gitschiner Straße möglich ist. „Rahnsdorf ist auch eine Reaktion auf Überlastungsanzeigen, die wir im vergangenen Jahr erhalten haben“, sagt Kerstin Stappenbeck, Abteilungsleiterin für Kinder und Jugendschutz in der Senatsbildungsverwaltung. „Aber es ist noch nicht das Ende aller Maßnahmen zur Verbesserung der Situation.“

Der Notdienst muss immer mehr Minderjährige aufnehmen

Denn die Situation wird immer dramatischer. 2021 wurden 1824 Minderjährige in den drei Noteinrichtungen aufgenommen, 2022 waren es schon 1956, und bis Ende Juni 2023 sind schon 824 Fälle dokumentiert.

Fälle wie der 13-jährige Marek (Name geändert), der selbst zum Kindernotdienst kam, weil ihn seine Mutter und sein Stiefvater schlugen. Marek blieb erstmal in der Gitschiner Straße, das zuständige Jugendamt lud Mutter und Stiefvater zum Gespräch. Ergebnis: Marek wurde vorläufig in einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung untergebracht. Ob er irgendwann wieder bei den Eltern leben kann, wird geprüft.

Der Notdienst ist das letzte Netz, das die Betroffenen auffängt

Der Kinder- und Jugendnotdienst ist das letzte Netz, das Betroffene auffängt, eine Akutmaßnahme. Danach werden nachhaltige Lösungsschritte eingeleitet. „Ein vierter Standort ist geplant“, sagt die Senatorin. Vier bis fünf Plätze werden dort dann zur Verfügung stehen, für Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren, die nicht gruppenfähig sind und eine intensive Einzelbetreuung benötigen.

Zwölf Vollzeitstellen sind dafür vorgesehen, die Kosten: rund 1,5 Millionen Euro. Die kommen dann zu den 6,5 Millionen Euro, die jährlich für die drei anderen Standorte ausgegeben werden.

In einem Zimmer des Jugend- und Mädchennotdienstes liegt eine rosa Bettdecke. Eine 17-Jährige, die zwar Kontakt zu ihrer Mutter hat, aber nicht mit ihr zusammen leben kann, wohnt hier. Im Türrahmen sagt Anna-Lena Iselhorst, die Leiterin des Hauses: „Es gibt hier alles an Schicksalen.“

Minderjährige fliehen vor Zwangsheirat, Gewalt oder sexuellem Missbrauch

Minderjährige fliehen aus Angst vor Gewalt, Zwangsheirat oder sexuellem Missbrauch, sie melden sich aber auch, wenn sie sich wegen schlechter Zensuren nicht nach Hause trauen oder bei der Klassenfahrt verloren gegangen sind, weil sie lieber zum Alexanderplatz als zum Museum gegangen sind.

Zehn Betten gibt es hier, auch ein Mutter-Kind-Zimmer. Die Altersgruppe der Bewohner liegt zwischen zwölf und 21 Jahren. 50 Prozent der Minderjährigen melden sich selber oder werden von der Polizei gebracht. Viele werden kurz danach ans zuständige Jugendamt weitergeleitet, hier leben aber auch Menschen wochenlang, weil sie sich weigern, nach Hause zu gehen. Es gibt Kinder, die gehen von hier aus zur Schule oder sie werden in eine Tagesstruktur eingebunden.

Eine Einrichtungsleiterin sieht den Brandbrief krititisch

Den Brandbrief allerdings sieht Iselhorst skeptisch. „Klar gibt es Problemlagen, aber dieser Brief war nicht zielführend. Ich finde es schwierig, wenn Kinder, die wir schützen sollen, so in den Fokus gestellt und derart dargestellt werden.“ Die Zusammenarbeit mit der Senatsverwaltung sei sehr eng. „Ich würde so einen Brief nie schreiben“, sagt sie. Bei ihr gebe es auch keine Personalprobleme, alle Schichten seien immer ausreichend besetzt.

In der Kontakt- und Beratungsstelle sind viele Kinder, die auf der Straße leben

120 Mitarbeiter gibt es insgesamt in den drei Nothilfeeinrichungen, nur insgesamt vier Stellen sind derzeit unbesetzt, davon eine in der Verwaltung des Kindernotdienstes und eine als Hauswirtschaftshilfe, ebenfalls in der Gitschiner Straße.

In der Kontakt- und Beratungsstelle (Kub) in Kreuzberg steht eine Tischtennisplatte neben einer schwarzen Couchgarnitur, auch Tischfußball kann man hier spielen. „Den Raum haben die Jugendlichen selber gestaltet“, sagt die Leiterin Julia Forgber.

Die jungen Menschen, die hier leben und sich erholen, kommen häufig von der Straße. Im Kub erhalten sie warmes Essen, können duschen, und in den Doppelzimmern mit den 16 Betten auch übernachten.

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