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Wadim Sch., hier bei seiner Voranhörung, erschoss aus einem Auto heraus einen unbewaffneten 62-Jährigen. Am Mittwoch bekannte er sich schuldig.

© Reuters/Viacheslav Ratynskyi

Erster Kriegsverbrecher-Prozess in der Ukraine: „Er fiel zu Boden, wir fuhren weiter“

Wadim Sch. tötete einen Zivilisten per Kopfschuss. Der 21-jährige Russe wird wohl der erste verurteilte Kriegsverbrecher von Putins Invasion. Aber nicht der letzte.

Im blau-grauen Kapuzenpulli sitzt Wadim Sch. in sich zusammengesunken in seinem Glaskäfig, die Hände vor dem Körper verschränkt. Seine Miene wird die kommende Stunde regungslos bleiben. An seiner Verurteilung besteht kein Zweifel. Denn das Verbrechen, das dem 21-Jährigen vorgeworfen wird, hat er bereits zugegeben.

Der Prozess, der Mittwochnachmittag im Kiewer Bezirksgericht beginnt, soll einer mit großer Symbolkraft werden. Mit Signalwirkung. Einer, der Leben retten kann. So hat es Iryna Wenediktowa, die ukrainische Generalstaatsanwältin, in einem Interview mit CNN ausgedrückt. Denn wenn die russischen Soldaten, die jetzt im Osten und Süden des Landes kämpfen, begreifen, dass sie für Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, halte sie das vielleicht von künftigen Taten ab. Man werde sie alle identifizieren und finden, sagt Wenediktowa. Auch jene, die mitgeholfen haben oder die Befehle zu Kriegsverbrechen gaben.

Der offizielle Auftrag sei Einschüchterung gewesen, sagt der Angeklagte

Wadim Sch. gehört einer Panzerdivision an, war seit Januar auf russischer Seite der Grenze nahe der ostukrainischen Region Sumy stationiert. Zunächst habe es geheißen, es handle sich lediglich um ein Manöver. So beschreibt Sch. es in einem Video, das die Staatsanwaltschaft vorab veröffentlicht hat. Nach Beginn der russischen Invasion habe ihm sein Vorgesetzter dann jedoch erklärt, seine Einheit werde in fremdes Staatsgebiet eindringen, um ukrainische Bürger einzuschüchtern. Das sei nötig, habe der Vorgesetzte gesagt. Denn in mehreren Städten komme es zu Übergriffen ukrainischer Zivilisten gegen russischsprachige Mitmenschen. Das müsse unterbunden werden.

Ihre Aufgabe, sagt Sch., sei daher offiziell gewesen, in gepanzerten Fahrzeugen umherzufahren und die Ukrainer allein durch ihre Präsenz einzuschüchtern. So jedenfalls habe man es ihm verkündet. Es habe auch geheißen, die Aktion werde drei Tage dauern.

Es kam anders. Am Morgen des 28. Februar überquerte seine Einheit die Grenze, kam zunächst zügig voran. Dann jedoch geriet ihre Fahrzeugkolonne unter schweren Beschuss. Mehrere Fahrzeuge wurden zerstört. Sch. und mehrere Kameraden flüchteten zunächst zu Fuß.

Wadim Sch. (rechts, im Glaskäfig) bekennt sich am Mittwoch in Kiew des Mordes schuldig. Vor ihm, im blauen Anzug, sitzt sein ukrainischer Verteidiger Viktor Owsjannikow.
Wadim Sch. (rechts, im Glaskäfig) bekennt sich am Mittwoch in Kiew des Mordes schuldig. Vor ihm, im blauen Anzug, sitzt sein ukrainischer Verteidiger Viktor Owsjannikow.

© picture alliance/Associated PR

In Tschupachiwka, einem Dorf mit 2400 Einwohnern, kamen sie an einem fahrenden Auto vorbei. Wadim Sch. sagt, es sei ein grüner Volkswagen gewesen. Sie zwangen den Fahrer aus dem Wagen und fuhren selbst darin weiter. Sch. saß auf der Rückbank hinter dem Fahrer, insgesamt waren sie zu fünft.

Ihr Ziel, sagt der Angeklagte, sei ihr Stützpunkt jenseits der Grenze gewesen. Doch am Straßenrand sahen sie einen älteren Mann, der sein Fahrrad schob und telefonierte. Der Mann war unbewaffnet, aber sie fürchteten, er könne sie verraten und ukrainischen Kämpfern mitteilen, dass russische Soldaten in dem geraubten Wagen unterwegs seien. „Ich bekam den Befehl, ihn zu erschießen“, sagt Wadim Sch. Durchs offene Autofenster feuerte er mit seiner AK-74, bekannt als Kalaschnikow, traf den Zivilisten am Kopf: „Er fiel zu Boden, wir fuhren weiter.“

Die Witwe des Getöteten sagt, sie werde dem Angeklagten nie verzeihen – auch wenn er noch ein Kind sei

Der Prozess im Bezirksgericht hat im Vorfeld große Aufmerksamkeit erregt. Kamerateams, Fotografen und Journalisten drängeln sich schon eine Stunde vor Beginn vor dem Eingang. Die Verhandlung wird auch live auf Youtube übertragen, in den Kommentaren wüten die Zuschauer, fordern, der Angeklagte solle der Familie des Opfers ausgehändigt werden. Die werde sich schon kümmern.

Der Mann, dessen Leben Wadim Sch. beendete, war 62 Jahre alt und lebte in unmittelbarer Nähe des Tatorts. Er war gerade auf dem Heimweg. Seine Ehefrau wird im Prozess aussagen. Im Interview mit einem lokalen Fernsehsender sagte sie, der mutmaßliche Täter sei noch ein Kind. Sie habe Mitleid mit ihm. Aber sie werde ihm niemals verzeihen können. Auch nicht den anderen russischen Soldaten, die so viel Leid über ihr Land gebracht hätten: „Wir haben sie nicht gebeten, herzukommen.“

Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa und der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs Karim Khan, der ebenfalls in der Ukraine ermittelt, besuchen im April ein Massengrab in Butscha.
Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa und der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs Karim Khan, der ebenfalls in der Ukraine ermittelt, besuchen im April ein Massengrab in Butscha.

© REUTERS/Volodymyr Petrov (13.4.)

Im Saal des Bezirksgerichts, direkt vor dem Glaskäfig, sitzt Viktor Owsjannikow, der Verteidiger von Wadim Sch., ein Ukrainer. Bereits vorab hat er erklärt, sein Mandant habe ein Verbrechen begangen, die Beweislast wiege schwer. Für ihn persönlich sei die Verteidigung Teil seiner normalen Arbeit. Es sei wichtig, die Rechte seines Mandanten zu schützen und so zu beweisen, dass die Ukraine ein demokratischer Staat sei – im Gegensatz zum Heimatland des Angeklagten.

Der Angeklagte bekennt sich schuldig

Als sich Viktor Owsjannikow am Mittwoch erstmals erhebt und äußert, betont er, dass der Fall ein hohes Maß an Emotionen hervorrufe. Dass man sich bei der Urteilsfindung aber nicht von Gefühlen leiten lassen dürfe, sondern allein von den Gesetzen.

Dann erhebt sich auch der Angeklagte selbst. Auf die Frage des Richters, ob er sich schuldig bekenne, antwortet er: „Ja.“

Die Staatsanwaltschaft wird seine Schuld trotzdem noch belegen müssen, das Eingeständnis des Mordes reicht nicht. Als Beweise wollen die Ankläger unter anderem das Telefon des Opfers vorlegen sowie die Sturmgewehre, die im Auto der Soldaten gefunden wurden. Auch ein Augenzeuge wird aussagen.

Wird Wadim Sch. schuldig gesprochen, muss er für mindestens zehn Jahre ins Gefängnis. Es könnte aber auch sein, und davon gehen viele Prozessbeobachter aus, dass Sch. nach seiner Verurteilung gegen ukrainische Kriegsgefangene ausgetauscht wird. Völlig unklar ist, was dann mit ihm in Russland passieren würde. Ob er dort in Ungnade fiele, weil er in Kiew sein Verbrechen zugab. Oder ob er eine Auszeichnung erhielte wie die 64. motorisierte Infanteriebrigade, die nach den Gräueltaten von Butscha von Russlands Präsident Wladimir Putin für „Heldentum und Tapferkeit, Entschlossenheit und Mut“ geehrt wurde.

Ein Ukrainer betrauert mit seiner Freundin seinen wenige Tage nach Kriegsbeginn getöteten Vater.
Ein Ukrainer betrauert mit seiner Freundin seinen wenige Tage nach Kriegsbeginn getöteten Vater.

© IMAGO/UPI Photo

Nachdem Wadim Sch. sein Opfer erschoss, versuchten die russischen Soldaten, die Grenze zu überqueren. Sie gerieten jedoch in einen Hinterhalt, mussten erneut zu Fuß flüchten und konnten wenig später gefasst werden.

In einem ersten Video erwähnt der Angeklagte den erschossenen Zivilisten nicht

Das Gesicht von Wadim Sch. wurde der ukrainischen Öffentlichkeit zum ersten Mal am 19. März bekannt. An diesem Tag veröffentlichte der ukrainische Blogger Wolodymyr Solkin ein Video, das Sch. im Gefängnis zeigt. Solkin betreibt einen populären Youtube-Kanal, auf dem er Mitschnitte seiner Besuche in Haftanstalten dokumentiert. In seinen Videos spricht er mit gefangenen russischen Soldaten über ihre Beteiligung am Krieg.

In dem Beitrag vom 19. März kommt Wadim Sch. zu Wort. Er schildert, wie er unter falschem Vorwand in die Region gelockt und seine Einheit dann angegriffen worden sei. Den erschossenen Zivilisten erwähnt er nicht. Zudem ruft er seine Freunde in Russland dazu auf, nicht am Krieg teilzunehmen und stattdessen gegen die Invasion zu protestieren.

Das Video zeigt auch, wie Wadim Sch. seinen Vater anruft und ihm mitteilt, dass er sich in Haft befinde: „Sie behandeln uns gut hier.“ Der Vater bittet in der Sendung um Nachsicht mit seinem Sohn. Dieser sei doch nur ein Soldat, dem man gesagt habe, er müsse sein Land verteidigen. „Ich glaube nicht, dass er wusste, wo es hingehen sollte“, sagt der Vater.

Später darf Wadim Sch. auch mit seiner Mutter telefonieren. Die beschreibt, wie schwierig es sei, sich in Russland akkurat über das Kriegsgeschehen in der Ukraine zu informieren. Und dass sie nicht verstehe, weshalb Wladimir Putin Kinder in den Kampf schicke.

Wir haben Russland viel zu lange ungestraft mit seinen kriminellen Taten durchkommen lassen.

Iryna Wenediktowa, Generalstaatsanwältin der Ukraine

Der Prozess gegen Wadim Sch., das hat Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa angekündigt, sei nur der erste Schritt in einer langen und komplexen Anstrengung, um sämtlichen Opfern von Kriegsverbrechen Gerechtigkeit zu bringen. Man werde dafür jeden Stein umdrehen, verspricht Wenediktowa. Laut ihrem Büro ist die Zahl der mutmaßlichen russischen Kriegsverbrechen mittlerweile auf fast 12.000 gestiegen. Es gebe vermutlich 620 Tatbeteiligte, jedoch seien erst 40 von ihnen identifiziert.

Nach Wadim S. sollen in Kürze weitere russische Soldaten vor Gericht gestellt werden. Am Dienstag gab Wenediktowa bekannt, dass ein 20-Jähriger wegen Vergewaltigung angeklagt wird. Der Funker einer Artillerie-Division soll in einer Kleinstadt nordöstlich von Kiew mit einem Kameraden in ein Haus eingebrochen sein und alle Bewohner bis auf eine junge Frau in den Keller eingeschlossen haben. Dann, so der Vorwurf, habe er die Frau mehrfach vergewaltigt und dabei gedroht, ihre Familie zu ermorden, sollte sie Widerstand leisten. Tage später soll er eine weitere Frau vergewaltigt haben.

Gegen zehn Soldaten, die an den Massakern in Kiews Vorort Butscha beteiligt gewesen sein sollen, läuft ebenfalls ein Verfahren. Sie befinden sich jedoch nicht in ukrainischer Gefangenschaft, die Prozesse müssen in ihrer Abwesenheit geführt werden.

Hunderte Prozesse könnten folgen

Eine Reihe mutmaßlicher Kriegsverbrechen hat die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft auch in Butschas Nachbarstadt Irpin dokumentiert. Unter anderem sei der Einsatz von Antipersonenminen und pfeilförmigen Granatsplittern festgestellt worden. Mindestens sieben Zivilisten seien während eines Friedhofsbesuchs beschossen worden.

Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa spricht von fast 12.000 mutmaßlichen russischen Kriegsverbrechen. Identifiziert seien jedoch erst 40 Tatverdächtige.
Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa spricht von fast 12.000 mutmaßlichen russischen Kriegsverbrechen. Identifiziert seien jedoch erst 40 Tatverdächtige.

© IMAGO/NurPhoto

Iryna Wenediktowa hat sich in den vergangenen Wochen mehrfach an die Öffentlichkeit gewandt, präsentiert auf Facebook neue Verdächtige, findet auch auf Twitter deutliche Worte. Dort schreibt sie etwa: „Wir haben Russland viel zu lange ungestraft mit seinen kriminellen Taten durchkommen lassen.“ Spricht sie über russische Soldaten, benutzt sie gelegentlich den im Land populär gewordenen Begriff „Orks“ – in Anspielung auf die nur entfernt menschlichen Schergen des Bösen in „Herr der Ringe“. Ihr Nachname ist russisch, das sei kurios, dass ausgerechnet die ukrainische Staatsanwältin einen russischen Namen trage, sagt sie.

Wenediktowa ist die erste Frau in dieser Position. Die 43-Jährige war früher Jura-Professorin, der Präsident, dessen Beraterin sie zeitweise war, wählte sie persönlich für das Amt der Generalstaatsanwältin aus. Ihr resolutes Auftreten kommt in der Bevölkerung gut an. Sie sagt, sie werde auch Putin vor Gericht stellen, sobald dieser nicht mehr Präsident ist und keine Immunität mehr hat. Und sie ist überzeugt, dass sie in Mariupol, das derzeit fast komplett unter Kontrolle der russischen Angreifer ist, Beweise für Kriegsverbrechen finden wird.

Dem ersten Kriegsverbrecherprozess des Ukraine-Krieges werden vielleicht bald Hunderte weitere folgen. Sehr wahrscheinlich wird die Beweislast in vielen Fällen nicht derart umfassend sein – und nicht alle Angeklagten werden sich so kooperativ verhalten wie Wadim Sch. Sein Prozess wird am Mittwoch nach knapp einer Stunde unterbrochen und vertagt. Hier im Bezirksgericht sei einfach zu wenig Platz, um bei dem großen Andrang ein geordnetes Verfahren durchzuführen. An diesem Donnerstag soll es in einem größeren Saal weitergehen.

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