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Freddy Lim ist Sänger der Metal-Band Chthonic und Abgeordneter in Taiwans Parlament.

© Montage: TSP | Fotos: Imago (2)

Metal-Sänger und Politiker Freddy Lim: „Wir waren nie ,das freie China‘ – wir sind Taiwan“

Freddy Lim war ein Rockstar, bevor er in Taiwans Parlament einzog. Ein Gespräch über seine Kindheit unter chinesischer Propaganda und die Sprache seiner Großmutter.

Freddy Lim, als Politiker und Metal-Sänger setzen Sie sich lautstark für Taiwans Selbstbestimmung ein. Was hat Sie politisch geprägt?
Ich bin 1976 geboren, meine Generation ist die letzte, die unter Kriegsrecht gelebt hat. Als die Kuomintang (KMT) in den 1940er Jahren aus China rüberkam, nachdem sie den Bürgerkrieg gegen die Kommunisten verloren hatte, lebte meine Familie schon länger in Taiwan. Mit meinen Großeltern sprach ich nur Taiwanesisch, Mandarin konnten sie nicht. Doch wenn mir in der Grundschule etwas auf Taiwanesisch rausrutsche, musste ich zehn NT-Dollar Strafe zahlen, und mein Name wurde an die Tafel geschrieben. Wir wurden zu Chinesen erzogen.

Verstanden Sie, dass die chinesische Herrschaft eine Fremdherrschaft war?
Nein, ich fand das sogar normal. Von klein auf wurde uns beigebracht, dass alles Taiwanesische minderwertig sei – all die Dinge, die meine Großmutter liebte, taiwanesische Opern, taiwanesische Lieder. In den Lehrbüchern, die die KMT uns vorsetzte, stand von Taiwan kaum ein Wort. Stattdessen lernten wir alles über China: Peking hier, Schanghai dort, die Geschichte der Chinesen, ihre Erzählungen.

Sie wussten also gar nichts über den Ort, an dem Sie lebten?
Beziehungsweise hatte man mir eingebläut, dass Taiwan ein Teil Chinas sei und es sowas wie eine taiwanesische Perspektive nicht gebe. Als wir den Zweiten Weltkrieg durchnahmen, verschwieg man uns, dass Taiwan ein Teil Japans gewesen war. Wir dachten also, wir hätten, wie die Chinesen, Japan bekämpft. Dabei hatte meine Großelterngeneration in der Kolonialzeit auf Japans Seite gekämpft – und zwar meist nicht in China, sondern in Indonesien oder den Philippinen. Wenn meine Großmutter von Luftalarm erzählte, dachte ich natürlich, das seien japanische Flieger gewesen. Was Schwachsinn ist, denn die Japaner waren ja selbst hier. Es waren die Jets der Alliierten – amerikanische, britische oder KMT-chinesische.

Von klein auf wurde uns beigebracht, dass alles Taiwanesische minderwertig sei – all die Dinge, die meine Großmutter liebte.

Freddy Lim über seine Schulzeit

Gab es einen Moment, in dem Sie dachten: Moment mal, ich bin kein Chinese – ich bin Taiwanese?
Als ich an der High-School war, wurden die Publikationsverbote für Verlage aufgehoben. Mein Vater kaufte viele taiwanesische Bücher von der Blacklist und verstaute sie in meinem Zimmer. Ich beachtete sie erst kaum, erst nach der Schulzeit, so mit 18, begann ich, mich für sie zu interessieren. Mein Vater und meine Lehrer hatten oft gesagt: „Was du im Unterricht lernst, ist nur für die Prüfung.“ Sie ermutigten mich, auf eigene Faust weiter zu lernen. Irgendwann wollte ich wissen, wovor die Regierung so große Angst gehabt hatte. Also begann ich zu lesen.

Und da legte sich ein Schalter um?
Zunächst war es vor allem verwirrend. Zwei Jahre lang führte ich eine innere Debatte. Ich meine, du bist 18 oder 20 Jahre alt und merkst, dass du dein ganzes Leben lang belogen worden bist. Das ist schwer. Ich wusste bis dahin zum Beispiel nicht mal, dass Taiwan eine reiche indigene Kultur hat.

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1995 gründeten Sie die Metal-Band Chthonic. Ihre Songs handeln von Taiwans indigenen Kulturen, von Volksmythen, aber zum Beispiel auch vom 228-Massaker, das die KMT-Chinesen 1947 an Taiwans Bevölkerung begingen. War Musik für Sie immer politisch?
Ich fing mit elf oder zwölf an, Rockmusik zu hören, aber ich bekam nicht gleich mit, dass vor allem Metal-Songs oft politisch waren. Später stellte ich fest, dass Bands wie Anthrax oder Megadeth von Rassismus oder Krieg sangen. Ich identifizierte mich auch mit skandinavischen Metal-Bands, deren Musik sich aus der Mythologie speiste. Sie nannten sich „Antichristen“, aber natürlich sind sie keine echten Satanisten, sondern es geht ihnen darum, die nicht-christlichen Wurzeln ihrer Kultur zu erforschen. Taiwan hat eine ganz andere religiöse und politische Geschichte, aber diese Art von Emotion, diese Wut verspürte ich auch.

Wenn ich Taiwanesisch spreche, spüre ich nicht nur meine eigene Kindheit, sondern ich kann mir vorstellen, wie meine Großeltern lebten, als sie jung waren.

Freddy Lim über seine zweite Muttersprache

Nachdem Sie anfangs auf Mandarin-Chinesisch sangen, singen Sie seit 2009 vor allem auf Taiwanesisch. Was bedeutet Ihnen die Sprache heute?
Wenn ich Taiwanesisch spreche, spüre ich nicht nur meine eigene Kindheit, sondern ich kann mir vorstellen, wie meine Großeltern lebten, als sie jung waren. Es berührt mich sehr, dass meine Tochter heute ihre Sprache spricht. Ich weiß nicht, was nach dem Tod kommt, aber sollten wir uns alle irgendwann wiedersehen, werden sie miteinander reden können.

Taiwan ist mittlerweile eine mehrsprachige Demokratie. Gedenkstätten, Bücher und Filme arbeiten den „Weißen Terror“ des KMT-Regimes auf. Sind die Wunden geheilt?
Nein. Wir sind auf dem Weg dorthin, aber das wird noch lange dauern. Wir betreiben Vergangenheitsbewältigung, das heißt bei uns transitional justice. Doch Aufarbeitung ist schwer, wenn Chinas Desinformationskrieg unsere Demokratie infiltriert, um die Gesellschaft zu polarisieren. Auch die Gedenkhalle für Chiang Kai-shek (den 1975 verstorbenen KMT-Diktator, Anm. d. Red.) hier in Taipeh steht noch. Natürlich muss diese Statue weg.

Die Statue des Diktators Chiang Kai-shek (1887–1975) steht nach wie vor in einer Gedenkhalle im Zentrum von Taipeh.
Die Statue des Diktators Chiang Kai-shek (1887–1975) steht nach wie vor in einer Gedenkhalle im Zentrum von Taipeh.

© Foto: Wiktor Dabkowski/Imago/Zuma Wire

Wo würden Sie sie hinstellen? In ein Museum?
Hauptsache, nicht in eine Gedenkhalle. Es gibt einen Park in Taoyuan, in dem man Dutzende Chiang-Kai-shek-Statuen versammelt hat, damit die Leute nicht vergessen, dass es eine Zeit gab, in der wir Diktatoren anbeteten. Vielleicht dorthin.

Ihr Land heißt bis heute Republik China, obwohl die meisten Taiwanesen und die Regierung „Taiwan“ bevorzugen. Paradoxerweise würde die Volksrepublik China es nicht zulassen, dass die Republik China – nunmehr Taiwan – ihren historischen, quasi längst fiktionalen Anspruch auf China aufgibt. Wie stehen Sie zu Ihrem Landesnamen?
Wir nennen uns nicht Bürger der Republik China, wir sind Bürger Taiwans. So nennt uns zum Glück auch die internationale Gemeinschaft. Leider hat die KMT nach dem Bürgerkrieg nicht nur die Republik China mit nach Taiwan gebracht, sondern auch die Verfassung derart gestaltet, dass es extrem schwer ist, sie zu ändern.

Manche Leute glauben, der Taiwan-Konflikt sei ein reines Erbe des chinesischen Bürgerkriegs. Das ist die Geschichte der KMT – aber es ist nicht unsere.

Freddy Lim

Gibt es einen westlichen Fehlglauben über Taiwan, den Sie korrigieren wollen?
Manche Leute glauben, der Taiwan-Konflikt sei ein reines Erbe des chinesischen Bürgerkriegs und Taiwan nur eine entkommene Provinz, die nicht zur chinesischen „Familie“ zurückkehren wolle. Für mich ist der Konflikt das Resultat der internationalen Ordnung, wie die Alliierten sie nach dem Zweiten Weltkrieg erschufen. Man stelle sich vor, nach dem Sieg über die Japaner wäre nicht KMT-China nach Taiwan geschickt worden, sondern die Franzosen oder, wie bei Okinawa, die Amerikaner. Dann gäbe es diese Situation heute nicht. Und nach 1949 konnte die KMT nirgendwo anders mehr hin, also blieb sie, um von Taiwan aus einen Weg zu finden, China zurückzuerobern. Das ist ihre Geschichte – aber es ist nicht unsere.

Auch heute wird in der geopolitischen Debatte zwar oft über Taiwan geredet, aber selten mit Taiwanesen.
Oder Taiwan wird durch die Ideologie des Kalten Krieges betrachtet. Damals nannten viele Taiwan das „freie China“, denn so lautete die Propaganda, die die KMT der Welt auftischte. Dabei war Taiwan ein autoritärer Staat. Die Periode, in der wir unter Kriegsrecht standen, war seinerzeit die längste der Welt. Wir waren nie „das freie China“. Wir sind Taiwan.

Das Kriegsrecht endete 1987, Taiwan wurde demokratisch. 2014 besetzte die studentische Sonnenblumen-Bewegung das Parlament in Taipeh und stoppte einen intransparenten Handelsdeal der KMT-Regierung mit China. Auch Sie nahmen an den Protesten teil. Was ist davon geblieben?
Die Sonnenblumen-Bewegung hat unterstrichen, dass Taiwan seinen eigenen Weg gehen und sich nicht mehr an China orientieren wird. Das Erbe der Bewegung ist, dass die Mehrheit der Taiwanesen die Zusammenarbeit mit demokratischen Ländern vertiefen will, statt in die Falle des chinesischen Markts zu tappen.

International ist seit Russlands Überfall auf die Ukraine auch die Sorge um Taiwan gewachsen. Im November wurde ein indigener taiwanesischer Soldat getötet, der sich der ukrainischen Fremdenlegion angeschlossen hatte. Wie blicken Sie auf diesen Krieg?
Er beweist, dass Diktatoren unberechenbar sind und wir sie nicht mit unserer demokratischen Logik betrachten dürfen. Auch in Taiwan gibt es Politiker oder Wissenschaftler, die für Appeasement gegenüber China werben. Sie sagen, mehr Austausch und Handel werde China demokratisieren. Lange argumentierten sie mit dem Beispiel Russland: Die Sowjetunion sei ja auch kollabiert, nun sei Russland demokratisch. Schon als ich Vorsitzender von Amnesty International Taiwan war, habe ich immer wieder die Berichte russischer Menschenrechtler verbreitet, um zu zeigen, dass Russland keineswegs demokratisch war. Damals war es vielen Taiwanesen egal. Das hat sich dieses Jahr radikal geändert.

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