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Anhänger der linksliberalen DPP, die seit 2016 mit Tsai Ing-wen die Präsidentin stellt, vor deren Wahlkampfrede in Taipeh.

© Foto: TSP/Cornelius Dieckmann

Asiens lauteste Demokratie: Bei Taiwans Zwischenwahlen spielt China nur eine Nebenrolle

Vor den Kommunalwahlen Ende November dominieren lokale Themen – auch wenn Präsidentin Tsai sich entschieden gegen die Drohungen Pekings stellt.

Es ist kurz nach halb zehn an diesem noch immer warmen Novemberabend in Taipeh, als Tsai Ing-wen die Bühne betritt. Zehntausende Anhänger der linksliberalen DPP haben sich zwischen dem historischen Osttor und dem auf den Präsidentenpalast zuführenden Ketagalan-Boulevard der taiwanesischen Hauptstadt versammelt, um den bislang wichtigsten Wahlkampfauftritt der Präsidentin zu erleben.

Die Zwischenwahlen am 26. November, sagt die Staatschefin ins Fahnenmeer, seien Taiwans erste Abstimmung seit dem KP-Kongress in Peking Anfang Oktober. Chinas Partei- und Staatsführer Xi Jinping hat dort seinen Herrschaftsanspruch über Taiwan, das nie zur Volksrepublik gehört hat, bekräftigt. Und es ist die erste Wahl seit Russlands Angriff auf die Ukraine. Die Weltmacht, die ihren kleineren Nachbarn überfällt: Viele fürchteten darin einen Präzedenzfall für China und Taiwan zu erkennen. Im August führte Peking große Feuermanöver rund um die taiwanesische Insel durch.

Wir werden nicht zulassen, dass es Taiwan wie Hongkong ergeht.

Präsidentin Tsai Ing-wen (DPP)

Und so unterstreicht Tsai in ihrer Rede Taiwans Ablehnung von Chinas Annexions-Slogan „Ein Land, zwei Systeme“. Während auf dem riesigen Bildschirm hinter ihr eine Aufnahme der 2019 von Pekings Zentralgewalt niedergeschlagenen Hongkonger Demokratiebewegung zu sehen ist, ruft die 66-Jährige: „Wir werden nicht zulassen, dass es Taiwan wie Hongkong ergeht! Taiwan, das ist das Taiwan der Taiwanesen!“

Präsidentin Tsai Ing-wen bei ihrer Wahlkampfrallye am 12. November in Taipeh. Links und rechts die DPP-Kandidaten für Neu-Taipeh (Lin Chia-lung) und Taipeh (Chen Shih-chung).

© Foto: Reuters/Ann Wang

Die Wahlen in knapp zwei Wochen sind zwar „nur“ Kommunalwahlen, bei denen über Stadträte, Bürgermeisterinnen und Gouverneure abgestimmt wird. Doch für Tsai geht es um mehr. Die ganze Welt blicke jetzt darauf, wie Taiwan sich entscheide, betont die Präsidentin – ob für ihre chinakritische Demokratische Fortschrittspartei (DPP) oder für die Kuomintang (KMT), die Pekings Regime zwar nicht unterstützt, aber doch nähersteht.

Wer in diesen Tagen durch Taiwan reist, erlebt eine laute, unorthodoxe Demokratie in ihrer Hochphase. Wahlplakate tapezieren Städte und Dörfer von Keelung bis Pingtun, allgegenwärtig ist die gereckte Siegerfaust auf den Fotos der Kandidaten. Politiker fahren auf offenen Wägen mit Megafonen durch die Straßen und verteilen Flyer auf Nachtmärkten.

Der Inselstaat ist übersät mit Wahlplakaten, hier im Landkreis Chiayi im Südwesten des Landes.

© Foto: TSP/Cornelius Dieckmann

Doch Tsais Rede in Taipeh sticht aus der allgemeinen Stimmung im Land insofern heraus, als das bestimmende Thema bei Taiwans Zwischenwahlen keineswegs die Beziehung zur Volksrepublik ist – anders als bei Präsidentschaftswahlen, die erst wieder 2024 anstehen.

Lokale Themen überwiegen im Wahlkampf

„Bei Kommunalwahlen geht es weniger um die Abgrenzung von China als um lokale Fragen wie soziales Wohnen oder wie ein bestimmter Stadtbezirk gemanagt wird“, sagt Brian Hioe, der in Taipeh das Online-Magazin „New Bloom“ leitet. „Sollte die KMT stark abschneiden, wird man das international vermutlich als Schritt hin zu China deuten. Das gibt der Wahlkampf inhaltlich zu weiten Teilen aber nicht her.“

Sollte die KMT stark abschneiden, wird man das international als Schritt hin zu China deuten. Das gibt der Wahlkampf aber nicht her.

Brian Hioe, Leiter des Online-Magazins „New Bloom“

Was nicht bedeutet, dass Stammwählerschaften und Partei-Identitäten überhaupt keine Rolle spielen. Die KMT zieht seit jeher eher jene Wähler an, deren Familien 1949 nach dem verlorenen Bürgerkrieg aus China nach Taiwan kamen; die Staatspartei beherrschte die Inselrepublik bis 1987 diktatorisch per Kriegsrecht – und mit durchaus kolonialen Zügen.

Die DPP steht dagegen für die Taiwanesen, deren Vorfahren schon deutlich länger auf der Insel leben und denen ab den 1940er Jahren zu Millionen eben die KMT-Identität der Republik China aufgezwungen wurde. Diese Konfliktlinien sind heute weniger starr als früher, in den jüngeren Generationen fremdeln vermehrt auch Festland-Nachfahren mit der KMT. Überwunden ist die Spaltung aber nicht.

In Taipeh kandidiert der Urgroßenkel des Diktators Chiang Kai-shek

Mit Chiang Wan-an kandidiert sogar ein Urgroßenkel des Diktators Chiang Kai-shek (1887–1975) für die KMT, er will Bürgermeister von Taipeh werden. Chiangs DPP-Widersacher und Ex-Gesundheitsminister Chen Shih-chung, der bei dem Wahlkampfabend in Taipeh unmittelbar vor Präsidentin Tsai spricht, warf Chiang in einer Fernsehdebatte unlängst vor, sich nicht genug von seiner Familiengeschichte abzugrenzen. Trotz der vergleichsweise Peking-affinen Politik der KMT lehnt allerdings auch Chiang Chinas „Ein Land, zwei Systeme“-Fantasie explizit ab.

Für die Kuomintang kandidiert Chiang Wan-an für das Bürgermeisteramt in Taipeh. Sein Urgroßvater ist der KMT-Alleinherrscher Chiang Kai-shek (1887–1975).

© Foto: Wiktor Dabkowski/Imago/Zuma Wire

Der linke Chen selbst erlangte als Gesicht der weltweit beachteten Pandemie-Strategie des Landes Renommée – und könnte für die DPP erstmals seit 24 Jahren Taipehs Rathaus gewinnen. Die Mitte-links-Partei hat es in der Hauptstadt traditionell schwer, da große Teile der alten KMT-Elite, darunter viele Ex-Militärs, hier angesiedelt sind.

Wer Bürgermeister der Hauptstadt wird, hat gute Chancen auf die Präsidentschaft

Die Wahl in Taipeh hat, als eine der wenigen bei den Zwischenwahlen, auch nationale Implikationen und wird deshalb besonders aufmerksam beobachtet. Bis zu Tsai Ing-wens Erdrutschsieg 2016 waren alle gewählten Präsidenten Taiwans zuvor Bürgermeister von Taipeh.

Das Rennen in der Millionenstadt ist offen. In den Umfragen liegen die Zustimmungswerte aller drei Kandidaten nah beieinander. Als dritte Option positioniert sich Huang Shan-shan, die bereits Vize-Bürgermeisterin war und ein konservatives Profil vertritt. Auch das ist ein Zeichen des Wandels: Der Trend weg vom Zweiparteien-System ist daran abzulesen, dass die Taiwanesische Volkspartei (TPP) ungeahnte Erfolge verzeichnen könnte.

Huang Shan-shan war bereits stellvertretende Bürgermeisterin von Taipeh. Auf dem Ningxia-Nachtmarkt gibt sie sich Anfang November volksnah.

© Foto: TSP/Cornelius Dieckmann

Zudem stimmen die 24 Millionen Taiwanesen in einem Referendum darüber ab, ob das Wahlalter von 20 auf 18 gesenkt werden soll. Obwohl alle großen Parteien sich positiv geäußert haben, scheint es wahrscheinlich, dass das Votum am erforderlichen Quorum scheitern wird. Eine dezidierte Kampagne gab es von keiner Seite.

In Taipeh beschließt Präsidentin Tsai ihre Rede um kurz vor 22 Uhr mit gereckter Faust zu erhebender Musik. Die Menge brüllt „Dongsuan! Dongsuan!“ – die taiwanesische Aussprache des chinesischen Wortes für „gewählt werden“ bedeutet wörtlich „gefrorener Knoblauch“ und ist ein beliebter Wahlkampfspruch, der Siegesgewissheit ausdrückt.

Aber es geht an diesem Abend nicht nur um Lokalpolitikerinnen und Bürgermeister, sondern auch um das Regime in China. Tsai hat dem Kommunalwahlkampf eine außenpolitische Note verliehen und damit auch klargemacht: Zwischen der ohrenbetäubenden DPP-Rallye in Taipeh – nach Angaben der Partei sind es 50.000 Teilnehmer – und der totalitären Sterilität des KP-Kongresses in Peking vor einem Monat liegen nicht nur die Gewässer der Taiwanstraße. Sondern Welten.

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