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Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen traf am 5. April den Sprecher des US-Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, in der Ronald Reagan Presidential Library.

© Reuters/Taiwan Presidential Office

Warum China Taiwan mit Schussmanövern bestraft: „Xi Jinping schafft einen negativen Präzedenzfall“

Nach dem Treffen von Taiwans Präsidentin Tsai und US-Parlamentssprecher McCarthy startet China mehrtägige Feuermanöver um den Inselstaat. Ein Interview mit Militäranalyst Ben Lewis.

Herr Lewis, Chinas Militär hat am Samstag als Reaktion auf das Treffen von Präsidentin Tsai Ing-wen mit US-Parlamentspräsident Kevin McCarthy dreitägige Schießübungen nördlich, östlich und südlich von Taiwan begonnen. Wie ist das einzuordnen?
Die Übungen sind nicht überraschend, wenn man Pekings Herangehensweise in der Taiwan-Frage kennt. Das Treffen zwischen Tsai und McCarthy diese Woche war historisch und hat die Beziehungen zwischen den USA und Taiwan in den Vordergrund gerückt, McCarthy bezeichnete sie als die stärkste „zu seinen Lebzeiten“ – bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass er vor 1979 geboren ist, als die USA noch offizielle diplomatische Beziehungen mit Taipeh hatten.

Er hat sich nachdrücklich für rechtzeitige Waffenlieferungen und mehr wirtschaftliche Kooperation ausgesprochen. Das hat Peking verärgert. Es bleibt abzuwarten, ob China den Status quo erneut verschieben will wie im August 2022, als es in Reaktion auf den Taiwan-Besuch von Nancy Pelosi die Mittellinie der Taiwanstraße als Grenze effektiv abschaffte. Bislang scheint die Reaktion gemäßigter.

Im August 2022 dauerten die Übungen eine Woche, beinhalteten Raketen und kamen einer Probe für eine Blockade gleich. Aber könnte China nicht aus psychologischen Gründen zunächst dreitägige Manöver ankündigen und dann ausweiten, wie es das damals ähnlich praktizierte?
Das ist sehr gut möglich. Die Reaktion Taiwans und anderer Akteure wird der ausschlaggebende Faktor sein, aber wir müssen auch operative Fragen bedenken: Wetter, Treibstoffverbrauch und Wartungszyklen spielen bei der Durchführung solcher Übungen eine große Rolle. Leider bleibt uns jetzt nur: abwarten. Bisher wissen wir wenig darüber, was die Übungen beinhalten und wo genau sie stattfinden.

Wie sollte Taiwan reagieren?
Der August 2022 sollte als Muster dienen. Taiwans Militär überwachte die Aktivitäten der Volksbefreiungsarmee (PLA) damals sorgfältig und hinderte sie daran, ihr Hoheitsgebiet zu verletzen. Es ist ein schwieriger Balanceakt, der PLA entgegenzutreten, ohne zu eskalieren, aber Taiwan hat darin viel Erfahrung. Wenn es mit der gleichen Professionalität und Vorsicht reagiert wie im August, wird es gut durchkommen.

Sie führen seit Monaten minutiös Buch über Chinas militärisches Vorgehen rund um Taiwan. Wie ist das Gesamtbild?
2022 gab es mit mehr als 1.700 Flugzeugen eine Rekordzahl von Verletzungen der Luftraumidentifikationszone Taiwans. Dieses Verhalten hat sich 2023 fortgesetzt. Aber in der zweiten Märzhälfte – vor Tsais Reise – kam es zu einer deutlichen Verlangsamung, was mich beunruhigte. Es hatte den Anschein, dass die PLA eine operative Pause einlegte, um sich auf ihre Reaktion auf das McCarthy-Treffen vorzubereiten, was sich jetzt bewahrheitet.

Eine Invasion ist zumindest derzeit höchst unwahrscheinlich, es gibt keinen sichtbaren Truppenzusammenzug an Chinas Ostküste. Was also bezweckt Peking?
Fünf Hauptziele stechen heraus:

  • Erstens sind die Fähigkeiten der PLA-Streitkräfte relativ neu, seit Chinas Invasion Vietnams 1979 haben sie keinen Krieg mehr geführt. Unter Xi hat die PLA ihre Struktur völlig umgestaltet, um von einem Militärmodell sowjetischen Vorbilds zu einem Modell mit kombinierten Teilstreitkräften überzugehen, das sich stärker am US-Militär orientiert. Übungen dieser Art bieten der PLA die Möglichkeit, in einem potenziellen Einsatzgebiet zu trainieren.
  • Zweitens signalisiert China den USA und anderen, dass es Taiwan als Kernfrage sieht, in der es nicht nachgeben wird – ein Markenzeichen des „Wolfskriegertums“, das die Grundlage für Xi Jinpings ganze Außenpolitik ist.
  • Drittens sollen die Übungen die taiwanesischen Streitkräfte belasten und demoralisieren. Taiwans Militäretat wächst zwar, aber beträgt immer noch nur einen Bruchteil der Ausgaben Chinas. Die Manöver zwingen das taiwanesische Militär, Mittel zur Abwehr aufzuwenden und seine Streitkräfte in höchster Alarmbereitschaft zu halten.
  • Viertens soll Taiwans Bevölkerung die Botschaft vermittelt werden, dass es, wenn es seinen derzeitigen Weg fortsetzt, mit einem Angriff durch das größte Militär der Welt rechnen muss.
  • Und fünftens will die Kommunistische Partei Chinas der eigenen Bevölkerung demonstrieren, dass sie ein starkes Gesicht gegen „Einmischung von außen“ zeigt.

Frankreichs Präsident Macron und EU-Kommissionschefin von der Leyen haben gerade Chinas Partei- und Staatschef Xi Jinping besucht. Von der Leyen schien auf Konfrontation aus, Macron auf Umarmung. Zu Taiwan sagte er: „Als guter Stoiker kümmere ich mich nur um das, was von mir abhängt.“ Hat Frankreich die Botschaft der EU untergraben?
Auffällig ist, dass Peking sowohl das Ende des Tsai-McCarthy-Treffens abwartete als auch die Abreise Macrons und von der Leyens. Von der Leyens Rede vor ihrer Reise war die härteste der EU zu China, die ich je erlebt habe. Es scheint, dass Peking ein Treffen ohne Ablenkungen wollte und die Gelegenheit nutzte, um klarzumachen, dass es bereit ist, mit Europa zu kooperieren, solange es sich bei Taiwan nicht einmischt.

Was erwarten Sie von China in nächster Zukunft militärisch?
Die aktuellen Übungen werden enden, aber den militärischen Druck gegen Taiwan wird China dauerhaft aufrechterhalten. Gerade jetzt ist das Engagement der demokratischen Staaten von enormer Bedeutung. Indem sie Taiwan unerschütterlich unterstützen und Peking klarmachen, dass diese Art provokativer militärischer Reaktion inakzeptabel ist, können sie dem negativen Präzedenzfall begegnen, mit dem autoritäre Machthaber wie Xi Jinping den Einsatz militärischer Macht als Mittel rechtfertigen, um kleinere Staaten zu unterjochen.

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