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Der in Taipeh lebende Schriftsteller Stephan Thome.

© Max Zerrahn/Suhrkamp Verlag

Die Deutschen und Taiwan: „Es gibt Widersprüche zwischen unseren Wirtschaftsinteressen und unseren Werten“

Kaum ein Deutscher kennt Taiwan so gut wie Stephan Thome. Der Schriftsteller über den Trotz seiner Wahlheimat, seine enttäuschte Liebe zu China und den Besuch von Ministerin Stark-Watzinger.

Herr Thome, mit Ihren Büchern „Pflaumenregen“ und „Gebrauchsanweisung für Taiwan“ sind Sie hierzulande sowas wie der oberste Taiwan-Erklärer geworden. Reisen deutsche Politiker nach Taipeh, lädt die Vertretung der Bundesrepublik Sie für Hintergrundgespräche ein. Gerade schreiben Sie ein Sachbuch über die Hintergründe des Konflikts mit China. Lässt Sie das manchmal wachliegen?
Es kommt schon vor, dass mir Fragen durch den Kopf gehen: Wie sähe ein Angriff durch China konkret aus? Ich könnte nach Deutschland fliehen, meine taiwanische Frau auch, aber was wäre mit ihrer alten Mutter? Die ganze Familie würde entweder heimatlos oder sie wäre einer großen Gefahr ausgesetzt.

Wie verarbeitet Ihr taiwanisches Umfeld diese Gefahr?
Manche haben mit ihrer Partnerin oder ihrem Partner noch nie darüber gesprochen, für andere ist es Thema Nummer eins. Russlands Überfall auf die Ukraine war auch in Taiwan ein Weckruf.

Viele, darunter meine Frau, haben sich für Zivilverteidigungskurse angemeldet, in denen man zum Beispiel lernt, wie man Schusswunden versorgt. In Taiwan wird zwar über vieles gestritten – aber dass man nicht zur Volksrepublik China gehören will, ist Konsens.

Das Diabolische an Chinas Propaganda ist, dass sie komplexe Verhältnisse in einprägsame Sätze packt, die jede Ambivalenz wegwischen.

Stephan Thome über Pekings Taiwan-Rhetorik

Ein Standardsatz der chinesischen Propaganda lautet: „Taiwan gehört seit antiken Zeiten zu China.“ Auch Pekings Chefdiplomat Wang Yi hat ihn kürzlich auf der Münchner Sicherheitskonferenz wiederholt. Was würden Sie antworten?
Die kurze Antwort: Das ist Quatsch und hält keiner historischen Überprüfung stand. Taiwan hat nie zur Volksrepublik China gehört.

Und die lange?
Das Diabolische an Chinas Propaganda ist, dass sie komplexe Verhältnisse in einprägsame Sätze packt, die jede Ambivalenz wegwischen. Pekings Standardformulierung von der „5000-jährigen chinesischen Geschichte“ tut so, als habe es die ganze Zeit ein nationales Subjekt namens China gegeben, das ein Volk war, eine Sprache sprach und 1949 organisch in der Volksrepublik aufging. Das ist so falsch, dass man gar nicht weiß, wo man mit der Korrektur anfangen soll.

China war vieles, aber sicher kein einheitlicher Nationalstaat. Taiwan gehörte vom späten 17. Jahrhundert an für rund 200 Jahre zum Qing-Kaiserreich – das im Verständnis des chinesischen Nationalismus ja nicht mal richtig chinesisch war. Die Qing-Herrscher waren schließlich Mandschuren von jenseits der Großen Mauer, gehörten also nicht der Mehrheitsethnie der Han-Chinesen an.

Für Taiwan folgten 50 Jahre als japanische Kolonie bis 1945, dann das nächste Fremdregime, die Republik China unter der Kuomintang (KMT), heute Oppositionspartei. Wie prägte das die Gesellschaft?
Die taiwanische Identität ist eine gemischte und gebrochene. Was die Menschen eint, ist der Wunsch, frei von Fremdherrschaft zu sein. Diesseits dieser roten Linie wird heftig debattiert. Eine Minderheit besteht darauf, dass sie immer noch in der Republik China lebt, die die KMT nach dem verlorenen chinesischen Bürgerkrieg 1949 in Taiwan fortsetzte. Die ganz Alten erinnern sich noch an die japanische Zeit, teils durchaus sentimental. Die meisten aber begreifen sich heute einfach als Taiwaner.

Was zur seltsamen Situation führt, dass die heutige Regierungspartei DPP, deren Identitätskern eben das Taiwanische ist, ein Land repräsentiert, das offiziell noch immer Republik China heißt. Ist die Tragik der Taiwaner, einen Staat geerbt zu haben, den sie überwinden wollten?
Viele sehen das so. Die DPP hält die Republik China gezwungenermaßen hoch, weil Peking eine Umbenennung in Taiwan als Kriegsgrund sähe. Aber jedes Mal, wenn die DPP an die Macht gekommen ist, wurde der Schriftzug „Republic of China“ auf den Reisepässen kleiner. Inzwischen steht er auf Englisch gar nicht mehr drauf. Nur noch: Taiwan.

Die DPP-Regierung unter Präsidentin Tsai Ing-wen steht für Taiwans Eigenständigkeit. Das Parteilogo enthält den geografischen Umriss der Insel statt alter Symbole der Republik China.
Die DPP-Regierung unter Präsidentin Tsai Ing-wen steht für Taiwans Eigenständigkeit. Das Parteilogo enthält den geografischen Umriss der Insel statt alter Symbole der Republik China.

© Imago/AFLO

Wie würden Sie Taiwans Nationalkultur charakterisieren?
Der taiwanische Nationalismus ist nie auftrumpfend oder chauvinistisch. Er ist eher ein trotziger Stolz. Aber dieser taiwanische Staat hat keine Flagge oder Hymne, die bei olympischen Siegerehrungen gespielt werden könnte – nur die alten Symbole der Republik China.

Das nagt an vielen Taiwanern, mitunter äußert sich das in einer Feindschaft gegen alles Chinesische, nicht nur die Volksrepublik, sondern auch das kulturelle Erbe. Andere sagen: Lasst uns nicht alles Chinesische verdammen, das macht uns nur ärmer.

Pekings Botschafter in Frankreich drohte 2022, nach der „Wiedervereinigung“ komme die „Umerziehung“. Das ist vielen Taiwanern schmerzlich vertraut aus der KMT-Diktatur, die taiwanische Identitäten bis in die späten 1980er Jahre gewaltsam verbat. Will die Volksrepublik sie erneut ausradieren?
Ja, für Peking ist das selbstverständlich: Wenn die Taiwaner nicht verstehen, dass sie Chinesen sind, muss man ihnen das halt beibringen. Nach der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz 1989 befand die KP-Führung, ihr größter Fehler sei es gewesen, die Erziehung nicht nur der Jugend, sondern des ganzen Volkes vernachlässigt zu haben. In Hongkong geschieht die Umerziehung gerade.

Wie bewerten Sie mittelfristig das Risiko einer Invasion?
Ich bin besorgt, nicht panisch. Ohne Zweifel wird Peking ungeduldiger, es will Taiwan auf keinen Fall in Ruhe lassen. Aber es will auch keinen Krieg mit den USA riskieren. Das wäre suizidal, und das überragende Ziel der KP ist die Erhaltung ihrer Macht. Jeder, der nicht völlig verblendet ist, weiß, dass die Invasion einer Insel das komplizierteste militärische Manöver überhaupt ist.

Auch die USA wollen keinen Krieg, Taiwan sowieso nicht. Und wenn niemand Krieg will, gibt es eine erhebliche Chance, dass der Frieden hält. Aber keine Garantie. Denn die Rivalität zwischen China und den USA wird schärfer.

Würden die USA Taiwan bei einem chinesischen Überfall militärisch zu Hilfe eilen?
Danach sieht es aus. Joe Biden hat es viermal bejaht, auch wenn das Weiße Haus immer hinterherschiebt, dass man es offenlasse. Aber gäben die USA Taiwan auf, würden sofort auch Südkorea und Japan fragen, was der amerikanische Schutz noch wert ist. Die Philippinen und Vietnam, sogar Australien und Neuseeland, müssten sicherheitspolitisch umdenken.

Die USA wären als Weltmacht Nummer eins abgelöst. In Peking geht man deshalb sowieso davon aus, dass die USA eingreifen würden. Es kursiert der Witz: Die Einzigen, die noch nicht wissen, dass die USA eingreifen werden, sind die USA. Übrigens ist die Annahme falsch, dass die Amerikaner zwingend eine Wahl hätten.

Wie meinen Sie das?
In maritimen Konflikten besteht ein zentrales Moment im „Area Denial“: dem Gegner die Möglichkeit zu nehmen, ein Kriegsgebiet überhaupt zu erreichen. Das hieße für China, dass es als erstes US-Militärbasen in der Region, etwa in Südkorea und Japan, eventuell sogar in Guam, mit Raketen ausschalten müsste. Nicht nur hätten Südkorea und Japan dann keine andere Wahl als sich zu wehren, China hätte auch den USA diese Entscheidung abgenommen.

Das bedeutet, dass es eigentlich kein realistisches Szenario eines begrenzten Konflikts gibt. Wenn es zum Ernstfall kommt, kommt es zum GAU. Deshalb muss eine Invasion unbedingt verhindert werden.

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Sie haben in China gelebt, über konfuzianische Philosophie promoviert, Ihr Roman „Gott der Barbaren“ spielt im China des 19. Jahrhunderts. Wie ist Ihr Verhältnis zu dem Land?
Ich bin China emotional verbunden. Es war eine prägende Erfahrung für mich, mit 23 für ein Jahr dort zu studieren. Viele der wichtigsten Reisen meines Lebens habe ich dort gemacht, nach Tibet, nach Xinjiang, an die Grenze zu Myanmar. Ohne China wäre ich ein anderer Mensch – und vielleicht nie Schriftsteller geworden. Aber zuletzt ist mir das Land unheimlich geworden.

Inwiefern?
Schon früher belastete mich, dass China spürbar unfrei war, aber unter Xi Jinping ist es noch autoritärer und martialischer geworden. Vermutlich würde ich heute gar kein Visum mehr bekommen, weil ich meine Publikationen auflisten müsste und da das Wort „Taiwan“ drinsteht. Zuletzt war ich 2017 in China. Dass ich vielleicht nie wieder hinkann, bedrückt mich. Ich weiß, dass das Land nicht so ist, wie es immer dargestellt wird. Es gibt nicht nur die Apparatschiks und Betonköpfe der Partei. China ist vielfältig, viele Menschen leiden unter dem Regime. Leider ist mein Kontakt zu Freunden dort oberflächlicher geworden. Es gibt Dinge, die bespricht man nur, wenn man zusammensitzt, gut gegessen hat und seit zwei Stunden redet.

Wie blicken Sie von Taiwan aus nach Deutschland?
Es ist gut, dass Taiwan inzwischen auf der geistigen Landkarte vieler Deutscher vorkommt. Das hat natürlich mit der Bedrohung zu tun. Die Leute wissen: Aha, irgendwas unterscheidet Taiwan von China. Immerhin.

Zugleich taucht das Land in deutschen Medien fast nur als potenzielles Ziel einer Invasion auf, als Opfer in spe, was der hiesigen Gesellschaft nicht gerecht wird. Man merkt der Berichterstattung an, dass es keinen Sockel an Kenntnissen gibt. Viel schlimmer aber ist, dass immer wieder chinesische Propaganda übernommen wird.

Zum Beispiel?
Es ist nicht lange her, da schrieb Theo Sommer in einem „Zeit“-Artikel von „taiwanischen Separatisten“ – und meinte damit die demokratisch gewählte Regierung dieses Landes. Das war noch die Helmut-Schmidt-Schule der totalen Taiwan-Ignoranz.

Es gibt eine erhebliche Chance, dass der Frieden hält. Aber keine Garantie. (…) Und wenn es zum Ernstfall kommt, kommt es zum GAU.

Über das Konfliktpotenzial in Taiwan

Dabei ist Taiwan eigentlich ein linker Traum: eine Demokratie, die eine Diktatur überwunden hat, regiert von einer Single-Frau aus einfachen Verhältnissen, die sich für indigene und queere Menschen einsetzt, ein Sozialstaat mit Gewerkschaften und Zivilgesellschaft. Woher die Gleichgültigkeit bis Ablehnung bei vielen westlichen Linken, von Jean-Luc Mélenchon bis zur Linkspartei oder sogar der SPD?
Ganz links spielt sicher der Anti-Amerikanismus die größte Rolle: die Vorstellung, Taiwan sei nur ein Büttel der USA im Wettkampf mit China. Bei der SPD ist es traditionell so, dass sie im Rahmen ihres Parteiendialogs freundschaftliche Beziehungen zur KP Chinas unterhält, Einladungen an KP-Delegationen zu SPD-Parteitagen inklusive. Zu Taiwan äußert sie sich stets sehr vorsichtig – oder gar nicht.

Wie sehen Sie Deutschlands Wirtschaftsbeziehungen zu China?
Es gibt Widersprüche zwischen unseren Wirtschaftsinteressen und unseren Werten. Die Lebenslüge „Wandel durch Handel“ ist entlarvt, die deutsche Autosuggestion des Win-Win – wir machen viel Geld und tragen nebenher zu Chinas Öffnung bei – am Ende.

Unternehmen wie VW mit seinem Werk in der uigurischen Region Xinjiang sollten bereit sein, den Preis dafür zu zahlen, dass sie sich nicht mit diesem Regime gemein machen. Stattdessen versuchen Wirtschaftsvertreter, ihr Schweigen bei Menschenrechtsverletzungen als moralisch überlegene Position zu verkaufen, nach dem Motto: Wir haben den Chinesen ja nichts vorzuschreiben.

Chinas Partei- und Staatschef Xi Jinping hat die Drohungen gegen Taiwan verschärft. Im Bild Protestierende in Taipeh.
Chinas Partei- und Staatschef Xi Jinping hat die Drohungen gegen Taiwan verschärft. Im Bild Protestierende in Taipeh.

© Getty Images/Lam Yik Fei

Seit die US-Demokratin Nancy Pelosi im August 2022 Taiwan besuchte, reisen viele Politiker ins Land, auch die deutsche Forschungsministerin Stark-Watzinger soll in diesen Tagen Taiwan besuchen. Wie bewerten Sie solche Visiten?
Am wichtigsten ist die Abstimmung mit den Bedürfnissen der Taiwaner. Besuche dürfen nicht der Profilierung dienen, es muss Substanz dahinterstecken. Ich finde es legitim, Taiwan mit konkreten Schritten zu unterstützen, ohne es an die große Glocke zu hängen. Allerdings darf die Hilfe auch nicht unsichtbar bleiben, denn dann ist es keine.

Ich sage auch ausdrücklich nicht, dass man China nicht provozieren darf. Man muss es sogar, denn Peking protestiert in der Taiwan-Frage schon bei der geringsten Regung und trifft womöglich Vergeltungsmaßnahmen. Aber wenn Taiwan dafür handfeste Hilfe erhält, ist es die politischen Kosten wert.

Woran denken Sie?
Wenn etwa Lieferbestimmungen für Waffen gelockert werden, die Taiwan zur Abschreckung braucht, hat das Land was davon. Ein anderes Beispiel sind Städtepartnerschaften. Ich verstehe nicht, warum das nicht viel mehr europäische Städte machen. Das würde schnell Austauschkanäle schaffen, von denen beide Seiten profitieren.

Stichwort China-Kompetenz?
Absolut. Kürzlich sprach ich mit jemandem aus der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, der China-Themen in den Geschichtslehrplan einbringen will. Er erzählte, dass er viel Gegenwind bekommen habe. Die Lehrkräfte sagen: „Davon verstehe ich nichts, wie soll ich das unterrichten?“ Ein Teufelskreis.

Ich plädiere für Chinesisch-AGs und verpflichtende Fortbildungen für Lehrkräfte, mit dem Ziel, dass China-Themen Abiturstoff werden. Da der akademische Kontakt mit der Volksrepublik immer schwieriger wird, ist Taiwan eine sinnvolle Alternative.

Herr Thome, Sie sind politischer Beobachter, vor allem aber Romancier. Welche Geschichte über Taiwan beeindruckt Sie?
Der Roman „The Stolen Bicycle“ von Wu Ming-Yi ist großartig. Gerade ist erstmals ein Buch von ihm auf Deutsch erschienen, „Der Mann mit den Facettenaugen“. Ich hoffe sehr, dass das andere bald folgt.

Sie haben 15 Jahre Ihres Lebens in Taiwan verbracht. Welcher Ort erzählt am meisten über Ihre Wahlheimat?
Tainan, die alte Hauptstadt im Süden, mag ich sehr. Je weiter südlich man kommt, desto taiwanischer wird Taiwan, der Norden ist stärker chinesisch geprägt. Meine zweite Empfehlung ist die Ostküste. Von Hualien runter nach Taitung ist die Landschaft unglaublich schön. Die Ballungsräume liegen im Westen, der Osten ist so etwas wie der Windschatten der Insel, mehr indigene Taiwaner leben dort.

Man sieht Bananenstauden und Mangobäume, die Straßen sind von Palmen gesäumt. Fährt man die Küsten runter, hat man rechts die riesige Gebirgswand des Zentralmassivs, das Taiwan durchzieht, und links den endlosen Pazifik. Da scheint China plötzlich ganz weit weg.

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