zum Hauptinhalt
Lung Ying-Tai ist eine der renommiertesten Essayistinnen Taiwans. Von 2012 bis 2014 war sie Kulturministerin in der KMT-Regierung.

© imago stock

Lung Ying-Tais Roman „Am Fuße des Kavulungan“: Was ich 1636 in Taiwan sah

Lung Ying-Tai war Taiwans erste Kulturministerin. Ihr neues Buch ist ein naturnaher philosophischer Roman – und viel überzeugender als ihre jüngste populistische Wortmeldung.

Der Südosten Taiwans ist eine stille Gegend. Dünner besiedelt als die Westküste mit ihrem Schnellzugnetz entlang der Ballungsräume, lässt es sich leicht zur Ruhe kommen zwischen Zentralgebirge und Pazifik. Hierher, an den Fuß des Kavulungan, eines Berges, der den indigenen Paiwan als heilig gilt, schickt ein buddhistischer Meister die Ich-Erzählerin von Lung Ying-Tais Roman.

Die Schriftstellerin in der Sinnkrise, die sich fühlt, „als hätten sich Leib und Seele ausgekugelt“, mietet sich in einer Kleinstadt in der „Pension der Einsamkeit“ über einem Café ein. Ihr Ziel ist die Kommunion mit der Natur und sich selbst, der Erwerb des langsamen Rhythmus und das Kennenlernen des eigenen Landes.

Lung, im Gegensatz zu ihrer glücklosen Erzählerin eine der erfolgreichsten Autorinnen Taiwans, entspinnt daraus 84 Miniaturen, die, anders als der Klappentext ankündigt, weniger Kurzgeschichten sind als Romankapitel. Markante Charaktere tauchen darin auf, ein Mann etwa, der aus angeblichem Altruismus Liebesbriefe an Langzeithäftlinge schreibt, in denen er sich als Frau ausgibt. Oder eine Geisterbeschwörerin, die mit dem Jenseits kommuniziert.

Respekt vor der Urgeschichte

Die eigentliche Protagonistin aber lernt die Erzählerin erst nach der Hälfte des Buches kennen, ein 14-jähriges Mädchen, dessen Lebensweisheit sein Alter weiter übersteigt und das nach eigenem Bekunden die Zeit nicht linear erlebt: „Ich spüre, dass ich mich in der Zeit befinde, kann aber ihren Fluss nicht sehen. Es scheint, als habe sie keinen Anfang und kein Ende. Sie gleicht dem Wasser, doch anders als aus dem Wasser, kann ich nicht aus der Zeit steigen. Hat die Zeit ein Ufer, an das ich mich begeben kann?“

„Time is an ocean, but it ends at the shore“, hat Bob Dylan einmal gesungen. Auch an Siddhartas „Fluss, der aus ihm und den Seinen und allen Menschen bestand, die er je gesehen hatte“, bei Hermann Hesse fühlt man sich erinnert. Lung nutzt die traditionsreiche Metapher der Zeit als Gewässer, um das Mädchen als Zeugin der langen Geschichte Taiwans auftreten zu lassen.

Im Jahr 1636 etwa, erzählt die junge Erwachsene, habe sie ein Massaker der niederländischen Kolonisatoren an der indigenen Bevölkerung erlebt. Als Figur nimmt sie eine fast allegorische Funktion ein, die für die komplexe Werdung des Landes steht.

Der Roman, erschienen im kleinen, auf chinesischsprachige Literatur spezialisierten Drachenhaus Verlag, ist mit der Selbstbeschreibung „Eine philosophische Reise“ treffend typisiert. Gegen Ende, als ein ungeklärter Mordfall in den Vordergrund tritt, wird daraus sogar ein Krimi.

Vor allem aber spricht aus Lungs Buch – ihrem ersten, das auf Deutsch erscheint – der Respekt vor der alten Geologie, Flora und Fauna. Die sorgsamen Naturbeschreibungen mahnen Achtung vor der Urgeschichte dieses prekären Fleckchens Erde an. Was ist schon eine Identitätskrise im Vergleich zu den Eiszeiten von 800 Jahrtausenden, in denen Baumsorten in glazialem Tempo vom Festland auf die Insel migrierten?

Lungs widersprüchliche politische Rolle

Was die Welt sonst von Taiwan hört, die Bedrohung durch die Volksrepublik China, scheint nur hin und wieder am erzählerischen Horizont auf. Dabei ist Lung eine höchst politische Autorin. Wie ihre Erzählerin wurde sie 1952 als Kind chinesischer Bürgerkriegsflüchtlinge geboren. Während der Demokratisierung Taiwans in den späten 1980er Jahren schrieb sie gegen die KMT-Kriegsrecht-Diktatur an. Lange publizierte sie, die zwischenzeitlich in Heidelberg lebte, auch in China – bis ihre Texte vor einigen Jahren vom KP-Regime verboten wurden.

In Taiwan nimmt Lung als öffentliche Intellektuelle inzwischen eine kontroverse, teils widersprüchliche Rolle ein. Von 2012 bis 2014 war sie die erste Kulturministerin des Landes, wohlgemerkt in einer Regierung unter derselben (wenngleich nun demokratisierten) Partei, deren Gewaltherrschaft sie in den 80ern noch bekämpft hatte: der KMT unter Präsident Ma Ying-jeou. Dessen Nähe zur Volksrepublik führte 2014 zu einem tiefen Fallout mit Taiwans junger Generation, der sich in der Sonnenblumenbewegung entlud.

Zuletzt klagte Lung in einem Gastbeitrag in der „New York Times“ über eine in ihren Augen zu konfrontative Haltung Taiwans gegenüber China. Gerade unter jungen Lesern, die darin eine apolitische Verklärung und Apologie der Drohungen Pekings sahen, rief dies heftige Kritik hervor. Durchaus befremdlich war, dass Lung sich am Wahlkampfpopulismus der KMT beteiligte, die regierende DPP als kriegslustig darzustellen, ist es doch jene liberale Partei, die nicht nur entscheidend in der friedlichen Überwindung der Diktatur war, sondern kontinuierlich Dialogbereitschaft mit Peking signalisiert.

All das kommt in dem Buch nicht vor. Muss es auch nicht. Es ist ein kluger, literarisch durchdachter Roman einer politisch komplizierten Autorin.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false