zum Hauptinhalt
Małgorzata Hajewska-Krzysztofik und Joanna Kulig in „Woman of“ von Małgorzata Szumowska.

© No-Mad Films

Venedig Filmfestival (7): Das Kino gegen die rechte Politik

Am Samstag werden auf dem Lido die Löwen verliehen. Kurz vor Schluss überzeugt das polnische trans Drama „Woman of“ und unterstreicht: Die kleinen Filme haben vom Fehlen der Stars profitiert.

Von Andreas Busche

Giorgia Meloni und ihr Kabinett haben sich in der vergangenen Woche zwar auf dem Lido nicht blicken lassen, aber ein paar Witzbolde ließen es sich trotzdem nicht nehmen, die italienische Ministerpräsidentin und ihre Schergen zu Filmstars zu machen. Zumindest im Internet.

Seit einer Weile kursiert im Netz eine mithilfe des Programms Stable Diffusion erstellte Parodie des „Barbie“-Trailers – unter anderem mit den Gesichtern von Giorgia Meloni, dem Senatspräsidenten Ignazio La Russa, Berlusconi-Recken Maurizio Gasparri und Tourismusministerin Daniela Santanchè. Ein wahrer Horrorfilm. Nicht zu vergessen natürlich Melonis Stellvertreter, der unvermeidliche Matteo Salvini, der es immerhin zum Eröffnungsfilm an den Lido geschafft hat: dem protofaschistischen Weltkriegsdrama „Comandante“.

Säuberungswelle in der italeinischen Kultur

Die italienische Politik erinnerte ja schon zu Berlusconis Zeiten an Schundkino (die Ära hat ein eigenes kleines Filmgenre hervorgebracht). Aber selbst wenn man Meloni & Co innenpolitisch schon jetzt eine kaum längere Halbwertzeit attestiert als den zahlreichen Vorgängerregierungen, sind die Folgen ihrer Politik bis nach Venedig zu spüren.

Massive Sorgen herrschen zum Beispiel nach einigen Personalrochaden in den regionalen Filmförder-Institutionen. Wobei die erste Säuberungswelle zumindest an den Produktionsabteilungen des Senders RAI, dem wichtigsten Partner des italienischen Kinos, vorerst vorbeizog: Die Verträge von Paolo Del Brocco (RAI Cinema) und Maria Pia Ammirati (RAI Fiction) wurden kürzlich verlängert.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Für diese Personalie ist Matteo Garrones Wettbewerbsfilm „Io Capitano“ – sollte Meloni über eine Legislaturperiode hinaus in der italienischen Kulturpolitik das Sagen haben – möglicherweise wegweisend. Vor dem Hintergrund der strikten Abschottungspolitik muss Garrones Drama über zwei senegalesische Jugendliche, die auf ihrer gefährlichen Flucht durch die Sahara und über das Mittelmeer unter anderem die Folterkeller der libyschen Mafia überleben, wie ein Affront wirken.

Es ist genau jene Sorte von „linkem“ Kino, das man künftig nicht mehr mit Steuergeldern finanzieren möchte. Auch „Io Capitano“ ist eine RAI-Produktion – und steht im krassen Gegensatz zu dem anderen italienischen Heldenepos im diesjährigen Wettbewerb über eine Seenotrettung, „Comandante“.

Garrone Fluchtdrama beginnt in Dakar, wo Seydou (Seydou Sarr) und Moussa (Moustapha Fall) ihren Träumen von einem besseren Leben in Europa anhängen. Als sie genug Geld für die Überfahrt gespart haben, beginnt ihre gefährliche Odyssee, die bereits an der Grenze zu Niger jäh unterbrochen wird. Sie werden in der Sahara ausgesetzt, von Milizen ausgeraubt und kommen mit letzter Kraft in Libyen an. Lange Zeit erinnert „Io Capitano“ eher an ein Frontex-Abschreckungsvideo: Garrone spart keine Brutalität aus, die verwoben mit seinem magischen Realismus umso zynischer wirkt.

Seydou (Seydou Sarr) muss in „Io Capitano“ von Matteo Garrone eine Gruppe Geflüchteter sicher über das Mittelmeer bringen.

© Greta De Lazzaris

Es dauert sehr lange, bis „Io Capitano“ endlich zu dem Film wird, den Garrone verspricht: der den Menschen auf der Flucht eine Stimme gibt. Das Passagendrama ist für diese Geschichte vielleicht das denkbar schlechteste Format, weil es Empathie durch Aktionismus ersetzt. Was von „Io Capitano“ in Erinnerung bleibt, ist der letzte Blick Seydous, im Angesicht eines Helikopters der Küstenwache,

Proteste aus Polen wegen trans Drama

Die polnische Regisseurin Małgorzata Szumowska und ihr langjähriger Drehpartner Michał Englert wurden für ihr trans Drama „Women of“ bereits vor der Premiere in der Heimat kritisiert. Für das Regie-Duo waren diese erwartbaren Reaktionen Grund genug, ihren Film noch vor den Parlamentswahlen im Oktober einer breiten Öffentlichkeit zu zeigen und damit eine nationale Debatte anzustoßen. In Polen ist die gleichgeschlechtliche Ehe weiterhin nicht legalisiert; die LGBTQ+-Community befürchtet weitere Rückschläge im Kampf für ihre Rechte.

Erst im Juni gingen die Dreharbeiten an „Women of“ zu Ende; dass der Film Anfang September bereits seine Weltpremiere erlebt, ist allein schon ein kleines Wunder. So auch der Film selbst, der seinen Aktivismus in eine berührende, nuancierte Geschichte verpackt; nicht zuletzt durch das Spiel von Mateusz Wieclawek und Małgorzata Hajewska-Krzysztofik in den Rollen der jungen und der erwachsenen Aniela Wesoły. „Women of“ vermeidet einen kämpferischen Tonfall, er beobachtet seine Hauptfigur auf ihrem Weg der Selbstfindung, während die Gesellschaft um sie herum permanenten Umbrüchen unterworfen ist.

Mateusz Wieclawek als jugendliche Aniela in „Woman of“ von Małgorzata Szumowska und Michał Englert.

© No Mad Films

45 Jahre braucht Aniela, bis sie auch körperlich zu der Frau wird, als die sie sich von ihrer frühesten Kindheit an gefühlt hat. Ihre polnische Kleinstadt hat sie nie verlassen, die Möglichkeiten eines anderen Lebens entdeckt sie als Jugendliche in Magazinartikeln über Geschlechtsangleichungen. Aber bis dahin ist es ein langer Weg, auf dem „Women of“ sie in elliptischen Erzählschleifen – vom Ende des Kommunismus über die Ankunft eines westlich geprägten Kapitalismus bis zum Ausbruch der Covid-Pandemie – begleitet.

Szumowska und Englert erzählen ihre Geschichte aber nicht als Meldoram, sondern wie eine Reise: in wunderschön-porösen Bildern, die keine Entfremdung beschreiben wollen. Anielas Ehefrau (und Mutter ihrer zwei Kinder), gespielt von Joanna Kulig, bleibt über die Jahrzehnte ihre wichtigste Alliierte im Kampf um körperliche Autonomie. Am Ende von „Women of“ geben sie sich zum zweiten Mal das Ehegelübde.

In Erinnerung bleiben die stillen Filme

Kurz vor dem Ende des Festivals ist „Women of“ ein weiterer Beleg dafür, dass die kleinen, eher leisen Filme in diesem Jahr von dem Fehlen der Stars profitiert haben. Michael Manns „Ferrari“, Bradley Coopers „Maestro“ und Sofia Coppolas „Priscilla“ haben in den ersten Tagen alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Aber in Erinnerung bleibt eher Ryusuke Hamaguchis kryptisch-lyrische Vater-Tochter-Geschichte „Evil Does not Exist“ über eine kleine Community am Rande Tokios, die gegen einen geplanten Luxus-Campingplatz protestiert. Oder die Belgierin Fien Troch mit ihrer Coming-of-Age-Geschichte „Holly“ über ein junges Mädchen, das die Traumata seiner Mitmenschen absorbiert.

Guillaume Canet und Alba Rohrwacher im Liebesfilm „Hors-saison“ („Nebensaison“) von Stéphane Brizé. 

© Michael Crotto

Fast schon wieder zu still, um ernsthaft Preis-Chancen zu haben, ist hingegen Stéphane Brizés meisterlich reduzierter Liebesfilm „Hors-saison“ („Nebensaison“) über einen berühmten Schauspieler (Guillaume Canet), der nach einem Burnout eine Auszeit in einer Rehaklinik nimmt. Hier trifft er seine ex-Freundin (Alba Rohrwacher) wieder, die er 15 Jahre zuvor über Nacht verlassen hat.

In dieser im Grunde simplen Konstellation entblättert Brizé, durchaus nicht unkomisch, Schicht um Schicht die trügerischen Selbstbilder und tröstlichen Sicherheiten, in denen man sich im Leben eingerichtet hat. „Hors-saison“ ist ein Film der langen Einstellungen und tastenden Dialoge. Er nimmt aber immer wieder auch verblüffende Wendungen – etwa die Liebesgeschichte zwei über 70-jähriger Frauen –, die alle Klischees des Liebestopos „Mann trifft Jugendliebe“ hinter sich lassen.

Der Konsensfilm der 80. Filmfestspiele ist jedoch Giorgos Lanthimos’ Frankenstein-Geschichte „Poor Things“ mit Emma Stone, der das Leichte, das Makabre und das Politische – wenn auch nicht ganz so virtuos wie in „The Favourite“, der 2018 in Venedig den Regie-Preis gewann – verbindet. Die Karriere von Lanthimos reicht von der griechischen New Wave bis nach Hollywood. Der Hauptpreis wäre ein verdienter Trost für das US-Kino in einem Jahr, in dem sich die Stars rar gemacht haben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false