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Kanzler Olaf Scholz empfing im Juni unter dem Protest von Menschenrechtsgruppen Li Qiang, die Nummer zwei hinter Chinas Staatschef Xi Jinping.

© p-a/dpa/Kay Nietfeld; privat | Bearbeitung: TSP

Exklusiv

Spionage vor dem Kanzleramt: Wie China Regimegegner in Deutschland mundtot macht

Tagesspiegel-Recherchen zeigen, dass der KP-Staat Aufnahmen von regimekritischen Teilnehmern einer Demo vor dem Kanzleramt anfertigte – und deren Familien bedrohte.

Der 20. Juni 2023 war ein guter Tag für das chinesische Regime. Neben Ministerpräsident Li Qiang reisten ganze neun Minister des Parteistaats zu den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen nach Berlin. Das Signal: Deutschland und China begegnen einander trotz aller Differenzen noch freundschaftlich, Demokratie hin, Diktatur her. Am Kanzleramt posierten beide Kabinette in höflicher Eintracht fürs traditionelle Familienfoto. Olaf Scholz lächelte, Li Qiang lächelte, die Ministerriege lächelte.

Doch mehreren chinesischen Regimekritikern wurde der 20. Juni zum Verhängnis. Drei Teilnehmer einer oppositionellen Demonstration vor dem Kanzleramt berichten dem Tagesspiegel, ihre in China lebenden Familien seien in den Wochen darauf von Polizisten oder anderen Sicherheitskräften besucht oder vorgeladen worden. Die Beamten hätten Drohungen ausgesprochen, weil ihre Angehörigen in Deutschland „anti-chinesischen“ Aktivitäten nachgingen.

Im Rahmen der Regierungskonsultationen posierten Olaf Scholz’ Bundesregierung und die chinesischen Minister für das traditionelle Familienfoto.
Im Rahmen der Regierungskonsultationen posierten Olaf Scholz’ Bundesregierung und die chinesischen Minister für das traditionelle Familienfoto.

© picture alliance/AP/Markus Schreiber

Der Vorgang fällt in angespannte Zeiten. Mehr denn je stehen Chinas Spionage und Einflussnahme im Fokus der Bundesregierung. In deren im Juli publizierter China-Strategie heißt es ungewohnt deutlich, man stelle sicher, „dass Deutschlands Souveränität nicht durch Maßnahmen transnationaler Repression gegen hier lebende chinesische Staatsangehörige verletzt wird“. Die Rede ist von „Formen der illegitimen Einflussnahme durch offizielle chinesische Stellen, die offen oder verdeckt erfolgen, einschüchternde oder auf Zwang basierende Mittel einsetzen oder Zielen dienen, die den Interessen Deutschlands (…) zuwiderlaufen“.

Botschaftsmitarbeiter unter Verdacht

Die in diesem Fall betroffenen Familien leben in Peking, der Provinz Sichuan und der Region Guangxi – völlig verschiedenen Gegenden Chinas. Wie also führt die Teilnahme an einer kleinen Demo in Berlin, der laut Organisatoren kaum mehr als 20 Menschen angehörten, zu Drohbesuchen chinesischer Polizisten? Und wie erfuhr der Sicherheitsapparat, der eisern im Dienst der alleinherrschenden Kommunistischen Partei steht, von den Identitäten?

Zu der Demo am 20. Juni am Kanzleramt hatten Menschenrechtsorganisationen aufgerufen, unter anderem Vereine der tibetischen und uigurischen Gemeinden.
Zu der Demo am 20. Juni am Kanzleramt hatten Menschenrechtsorganisationen aufgerufen, unter anderem Vereine der tibetischen und uigurischen Gemeinden.

© imago/Metodi Popow

Su Yutong glaubt: mit Handyaufnahmen. „Mir fielen vor allem zwei Männer und eine Frau auf, die Fotos von uns machten“, sagt Su, eine in Dissidentenkreisen bekannte Journalistin und Aktivistin, die 2010 nach Deutschland floh. „Als ich ihnen sagte, dass sie sich uns gerne anschließen könnten, entfernten sie sich schnell.“ Su vermutet, dass es sich um Mitarbeiter der Bildungsabteilung der chinesischen Botschaft handelte, die sie hinterher auf Fotos auf staatlichen Websites wiederzuerkennen glaubte.

Ich fand es sehr merkwürdig, dass eine Fremde mir solche Fragen stellt, also gab ich keine genauen Antworten.

Hu Jiangqiao, chinesischer Demonstrant

Einem weiteren Demonstranten, Hu Jiangqiao, fiel dieselbe Frau auf. Nachdem er lautstark Li Qiang und Partei- und Staatschef Xi Jinping kritisiert habe, habe sie ihn erst beobachtet, dann angesprochen. Woher er komme, wo er studiere, zu welcher Organisation er gehöre? „Ich fand es sehr merkwürdig, dass eine Fremde mir solche Fragen stellt, also gab ich keine genauen Antworten“, sagt Hu, der in Heidelberg in Physik promoviert.

Am Rande der Demo beobachteten ein Mann und eine Frau das Geschehen. Als ein Aktivist sie ansprach, erklärte der Mann, sie seien Touristen. Einem anderen Demonstranten sagte die Frau kurz darauf, sie sei Wissenschaftlerin.
Am Rande der Demo beobachteten ein Mann und eine Frau das Geschehen. Als ein Aktivist sie ansprach, erklärte der Mann, sie seien Touristen. Einem anderen Demonstranten sagte die Frau kurz darauf, sie sei Wissenschaftlerin.

© privat | Bearbeitung: TSP

Die Frau sei dann weggegangen, habe ihn aber gemeinsam mit einem Mann weiter beobachtet, weshalb er die beiden konfrontierte. Der Tagesspiegel konnte ein Video der Begegnung einsehen. Hu fragt, ob die beiden von der Botschaft seien. Der Mann, auf dessen entsperrtem Handybildschirm ein Chat zu sehen sein scheint, in dem offenbar kürzlich mehrere Bilder versendet wurden, entgegnet lachend: „Nein, wir sind Touristen.“ Aus dem Gespräch geht hervor, dass beide chinesische Muttersprachler sind.

Bundesinnenministerium bestätigt Vorfälle

Mehrere Fotos von der Demo, die dem Tagesspiegel vorliegen, legen nahe, dass es sich bei der Frau tatsächlich um eine Botschaftsangehörige aus der Bildungsabteilung handelte. Im Internet verfügbare Fotos weisen starke Ähnlichkeit auf. Ein weiteres Demobild zeigt einen Mann, der Ähnlichkeit mit einem ranghohen Bildungsdiplomaten der Botschaft aufweist.

Das Innenministerium erklärt auf Tagesspiegel-Anfrage, ihm lägen Informationen vor, die bestätigen, dass Mitarbeiter der chinesischen Botschaft oder Personen, die Chinas Behörden zuarbeiten, Demoteilnehmer fotografiert oder gefilmt haben.

Chinas Botschaft spricht von „ganz normaler Arbeit“

Die Botschaft weist die Vorwürfe über Repression gegen Demonstranten zurück. Solche Berichte seien „Fiktionen“ und eine „Verleumdung und Verunglimpfung Chinas“. Sie dementiert in ihrer schriftlichen Stellungnahme gegenüber dem Tagesspiegel aber nicht, dass chinesische Diplomaten bei der Demo zugegen waren, sondern schreibt lediglich: „Einzelne antichinesische Kräfte“ ließen nichts unversucht, um „chinesischen Diplomaten bei der Ausübung der normalen Arbeit Steine in den Weg zu legen“.

Einer der Organisatoren, David Missal vom Menschenrechtsverein Tibet Initiative Deutschland, berichtet, dass er besagte Frau ebenfalls angesprochen habe, nachdem sie zu einer nahen Jubelkundgebung mit in Rot gekleideten chinesischen Studierenden gegangen sei. Auch er habe sie gefragt, ob sie für die Botschaft arbeite. Die Frau habe nur geantwortet, sie sei Wissenschaftlerin. „Als ich sie fragte, von welcher Uni sie sei, hörte sie auf, mit mir zu sprechen und ignorierte mich.“

Gegen die Einheitsfront: Su Yutong vor der Pro-Regime-Versammlung chinesischer Studierender. Die Journalistin und Aktivistin ist seit Langem Opfer einer Psychoterror-Kampagne.
Gegen die Einheitsfront: Su Yutong vor der Pro-Regime-Versammlung chinesischer Studierender. Die Journalistin und Aktivistin ist seit Langem Opfer einer Psychoterror-Kampagne.

© privat

Su Yutong erinnert sich, dass die Frau auf der Pro-Regierungs-Versammlung wie eine Organisatorin aufgetreten sei. Sie habe sich lautstark bei den Teilnehmern erkundigt, wie es gerade laufe und sich auch sonst verhalten, als dirigiere sie die Veranstaltung.

An dieser Stelle wechselt das Geschehen nach China, 7500 Kilometer entfernt.

In Peking, sagt Su, sei ihre Mutter von Polizisten und Beamten der Staatssicherheit besucht worden. Das habe sie ihr Anfang Juli am Telefon erzählt. „Sie sagten: ‚Ihre Tochter hat Schlechtes getan. Sie hat an einem Protest gegen die Regierung teilgenommen und sie in Artikeln kritisiert.‘“ Die Beamten hätten wissen wollen, ob sie, Su, öfter anrufe und nach ihrer Telefonnummer gefragt. Auch ihr Bruder und ihre Cousine seien von der Polizei aufgesucht worden.

Verwandte werden häufig als Hebel eingesetzt, um Personen zu zwingen, sich nicht mehr öffentlich zu äußern.

Mareike Ohlberg, China-Forscherin beim German Marshall Fund

Ähnliches berichtet Hu Jiangqiao, der Heidelberger Doktorand. Rund zwei Wochen nach der Demo habe ihn sein Vater aus dem Landkreis Santai in Sichuan angerufen und erzählt, zwei Polizisten, ungefähr in ihren Dreißigern, seien gekommen und hätten ihn gewarnt: Sein Sohn gebe sich mit einer „Anti-China-Agentin“ ab – damit sei Su Yutong gemeint gewesen, die für das US-Medium „Radio Free Asia“ arbeitet. „Sie sagten meinem Vater, er solle mich dazu bringen, zurück nach China zu kommen.“ Die Beamten hätten seinem Vater Fotos vorgelegt, die ihn, Hu, bei der Demo am Kanzleramt zeigten. Es habe mehrere Besuche und eine Vorladung gegeben.

Der Physik-Doktorand Hu Jiangqiao lebt seit 2018 in Deutschland. Für die Oppositionsdemo am 20. Juni fuhr er von Heidelberg nach Berlin.
Der Physik-Doktorand Hu Jiangqiao lebt seit 2018 in Deutschland. Für die Oppositionsdemo am 20. Juni fuhr er von Heidelberg nach Berlin.

© privat

Auch Zhang Wen, ein weiterer Demonstrant, berichtet, seine Familie in Guangxi habe Besuch von drei Beamten erhalten. „Sie sagten, wenn ich im Ausland anti-chinesischen Aktivitäten nachgehe, werde ich ins Gefängnis kommen, und das werde sich auch auf meine Verwandten auswirken.“ Seine Familie sei ebenfalls dazu angehalten worden, ihn zur Rückkehr zu bewegen, erklärt Zhang, der in Baden-Württemberg Asyl sucht.

„Verwandte werden häufig als Hebel eingesetzt, um Personen zu zwingen, sich nicht mehr öffentlich zu äußern, keinen politischen Aktivismus zu betreiben – bis hin zur erzwungenen Rückkehr nach China“, sagt Mareike Ohlberg, China-Forscherin beim German Marshall Fund und Ko-Autorin eines Buches über chinesische Einflussnahme.

Nutzt China Gesichtserkennungs-Software?

Einige Fragen bleiben offen. Fragen, die auch die Bundesregierung an China haben dürfte: Wie führt die bloße Information, dass eine Person, von der die chinesischen Behörden womöglich nur ein Foto auf einer Demo haben, deren Namen sie aber gar nicht kennen, zum Polizeibesuch bei der Verwandtschaft?

Chinas Botschaft dementiert nicht, dass chinesische Diplomaten bei der Demo zugegen waren, nennt Vorwürfe der Repression gegen Teilnehmer aber „Fiktionen“. Auf dem Bild fotografiert ein unbekannter Mann ein Schild mit KP-kritischer Aufschrift.
Chinas Botschaft dementiert nicht, dass chinesische Diplomaten bei der Demo zugegen waren, nennt Vorwürfe der Repression gegen Teilnehmer aber „Fiktionen“. Auf dem Bild fotografiert ein unbekannter Mann ein Schild mit KP-kritischer Aufschrift.

© privat | Bearbeitung: TSP

Denkbar wären Gesichtserkennungs-Softwares, die kombiniert mit Überwachungsdaten Identitäten anhand von Fotos entschlüsseln können. „Grundsätzlich ist meine Annahme, dass der chinesische Staat diese Fähigkeit inzwischen hat“, erklärt Mareike Ohlberg. Aus Ausschreibungsdokumenten gehe hervor, dass China das zumindest anstrebe. Womöglich würden auch weitere Ressourcen hinzugezogen, etwa Übersichten der Botschaft zu in Deutschland lebenden Staatsbürgern. Pekings „Einheitsfront“-Strategie sieht auch die Zuarbeit von Überseevereinen, Parteizellen und anderen nicht- oder halbstaatlichen Verbänden vor.

China intensiviert Spionage

Su Yutong, die seit Jahren anonymen Einschüchterungen bis hin zu Morddrohungen und physischer Beschattung samt Besuchen fremder Männer vor ihrer Berliner Wohnung ausgesetzt ist, sagt, sie habe den jüngsten Vorfall dem Landeskriminalamt Berlin gemeldet. Auch Hu Jiangqiao ist in Heidelberg inzwischen zur Polizei gegangen.

Doch China intensiviert seine Spionage. Am Mittwoch hat sich das Ministerium für Staatssicherheit, das für Geheimdienstoperationen im In- und Ausland zuständig ist, erstmals in der Social-Media-App Wechat an das chinesische Volk gewandt: „Alle Mitglieder der Gesellschaft“ seien zur Sammlung von Informationen über potenzielle Gegner aufgerufen. Es ist der nächste Schritt hin zum totalitären Stasi-Staat über Landesgrenzen hinweg.

Der Psychoterror gegen Regimekritiker geht weiter. In der Nacht zum Donnerstag erhielt Su per E-Mail Buchungsbestätigungen in ihrem Namen für Luxushotelzimmer in Rom und New York, die sie nie getätigt hat. Dem Tagesspiegel liegen Screenshots vor.

Auch diese Methode ist bekannt. Erst kürzlich wurden mehrere Fälle publik, in denen Unbekannte Zimmer im Namen von chinesischen Oppositionellen reservierten und daraufhin Fake-Bombendrohungen aussprachen, um die Zielpersonen in Verruf oder sogar strafrechtliche Bedrängnis zu bringen.

„Ich habe keine Angst“, sagt Su. „Aber sie versuchen, meine Zeit zu verschwenden und ganz langsam meine Psyche zu brechen.“

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