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Gehirnscans aus dem „Interesting brains“-Projekt am MIT.

© Hope Keanl/Fedorenko lab

Das flexible Organ: Wenn ein Stück Hirn fehlt und trotzdem alles funktioniert

Sie können rechnen, sprechen, springen? Sie denken, Ihr Gehirn ist ganz normal? Muss nicht so sein. Ein Hirnscan fördert mitunter Erstaunliches zutage.

Eine Kolumne von Sascha Karberg

Es ist nur ein entschuldigender Spruch, wenn mir mal wieder, wie so oft, ein Name entfallen ist: „Mir fehlt da ein ganzer Gehirnteil!“ In Wirklichkeit, jedenfalls einer MRT-Aufnahme vor ein paar Jahren zufolge, scheint es dort oben keine nennenswerten Lücken zu geben. Allerdings kann ein solcher Blick unter die Schädeldecke mitunter Überraschendes aufdecken.

Wie bei der Hochschulprofessorin „E.G.“, deren Kopf 1987 durchleuchtet wurde. Wichtig zu erwähnen ist, dass die heute etwas mehr als 60 Jahre alte Frau nicht nur ein überdurchschnittliches, eben akademisches Vokabular hat, sondern neben ihrer Muttersprache Englisch auch eine Fremdsprache, Russisch, fließend spricht. Was erstaunlich ist, weil ihr jener Gehirnteil fehlt, der für Sprache eigentlich unerlässlich ist, der linke Schläfenlappen. Wo bei Menschen sonst mal mehr, mal weniger sinnvolle Worte und Sätze gebildet werden, klafft bei E.G. ein Loch.

Wie ist das möglich? 2016, Jahre nach der Zufallsdiagnose, meldete sich E.G. bei der Neurowissenschaftlerin Evelina Fedorenko, die am Hirnforschungsinstitut des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, USA, das „Interesting Brains“-Projekt leitet. Und ihre Tests ergaben, dass E.G. wohl als Kind einen Schlaganfall hatte, worauf der linke Schläfenlappen verkümmerte. Das führte aber nicht zu Sprachlosigkeit, sondern E.G.s Gehirn disponierte um und machte den rechten Schläfenlappen fit für die Sprachverarbeitung.

Doch damit ist die Geschichte nicht zu Ende. E.G.s Schwester fehlte der rechte Schläfenlappen, auch aufgrund eines Schlaganfalls in der frühen Kindheit (vermutlich infolge einer genetischen Schlaganfall-Disposition in der Familie). Auch bei ihr waren keine sprachlichen Defizite erkennbar, das Hirn hatte sich, statt wie normal linken und rechten Schläfenlappen zu nutzen, mit der linken Seite begnügt.

Die Fälle zeigen, dass es zwar Gene gibt, die den Aufbau des Gehirns steuern, aber nicht in Form eines festen Plans. Das Gehirn ist „plastisch“, die Bauanweisungen so flexibel, dass es sich vermutlich bei jedem Menschen ein wenig (oder sehr, wie bei E.G.) anders entwickelt. Und am Ende entstehen welche, die sich gut an Namen erinnern können oder eben miserabel.

Was wir zum Leben mitbekommen und was wir weitergeben – jedes Wochenende Geschichten rund um Gene und mehr in der „Erbonkel“-Kolumne.

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