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In Sichtweite: das Atomkraftwerk Saporischschja.

© Till Mayer

Ukrainisches Nikopol nach dem Dammbruch: „Wasser, das ist unser Problem Nummer 1“

In Nikopol herrscht nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms Wassernot. Dort, wo der Dnipro einst floss, gibt es jetzt nur Schlamm. Und da ist noch das Atomkraftwerk Saporischschja.

Von Till Mayer

Das Plakat am Straßenrand ist einfach gehalten. „Bezahlbares Einäschern“, verspricht die Firma „Schwarze Rose“ in schwarzer Schrift auf weißem Grund samt der edlen Blume. Die Werbetafel steht gleich bei der Einfahrt nach Nikopol, nahe einem Checkpoint.

Dort wischen sich die Soldaten zwischen Sandsäcken und Asphalt den Schweiß von der Stirn. Die Straße führt von dort schnurstracks in die ukrainische Stadt, vorbei an zumeist grauen Blocks aus Sowjetzeiten.

Die ungewöhnliche Werbung des Krematoriums am Ortseingang ist nicht gerade ein Hoffnungsbote in schwieriger Zeit. Die Blumen von Maya und Victor sind es allerdings schon. Da ist sich das Gärtnerpaar sicher. Doch ihre Gärtnerei ist in Gefahr, wie eigentlich alles in Nikopol.

Eine gefährliche Nachbarschaft

Seit 18 Jahren ziehen die beiden Pflanzen. „15 Blumen- und Pflanzensorten haben wir in unseren Töpfen“, sagt die 50-jährige Maya. In den Gewächshäusern hängen die Töpfe an Stangen oder stehen in Reih und Glied. Es duftet, die Farben sind eine Pracht. Doch bei näherem Hinsehen lassen so manche Pflanzen die Köpfe hängen.

Die Gärtnerei von Maya und Victor braucht eine Menge Wasser, eigentlich.
Die Gärtnerei von Maya und Victor braucht eine Menge Wasser, eigentlich.

© Till Mayer

Die Sonne brennt an diesem heißen Julitag. Und in Nikopol herrscht Wassermangel. Der einst gestaute Fluss Dnipro ist seit der Sprengung des Kachowka-Damms zusammengeschrumpft. Wasser muss in Nikopol jetzt verteilt werden. Eine Katastrophe für die Stadt und ganz besonders für eine Gärtnerei. Dann ist da noch das von Russland besetzte Atomkraftwerk Saporischschja.

Eine äußerst gefährliche Nachbarschaft. Das AKW liegt kaum mehr als fünf Kilometer Luftlinie von Maya und Victor entfernt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Dnipro.

Auf der Strecke zwischen Checkpoint und Gärtnerei befindet sich Nikopols Rathaus. Ein strenges, schlichtes Verwaltungsgebäude. Bürgermeister Oleksandr Sayuk empfängt mit müden Augen. Er hat harte Wochen hinter sich. Das nahe Atomkraftwerk ist Thema, die Vorbereitungen auf eine mögliche Evakuierung auch. Aber schnell geht es um die Wasserversorgung.

17 Meter war der gestaute Dnipro vor Nikopol tief. „Jetzt, nach der Sprengung des Staudamms, sind es sechs Meter“, sagt der Verwaltungschef. Die Pumpen der Wasserversorgung der Stadt könnten derzeit nur Luft satt Flusswasser saugen. „Unsere Techniker versuchen, die Ansaugstutzen zum Fluss zu verlängern. Und geraten dabei immer wieder unter russischen Beschuss“, sagt Sayuk.

Bürgermeister Oleksandr Sayuk muss große Herausforderungen meistern.
Bürgermeister Oleksandr Sayuk muss große Herausforderungen meistern.

© Till Mayer

Die Stadtverwaltung organisiert daher täglich an 40 Stellen die Verteilung von 1200 Tonnen Wasser, die nach Nikopol gebracht werden müssen. Anfangs geschah das mithilfe von Feuerwehrfahrzeugen, jetzt kommen Tankwagen oder Bahnwagons mit dem kostbaren Nass an. Aus mächtigen Behältern lassen die Menschen das Wasser in mitgebrachte Plastikflaschen laufen.

Mit Tankwagen und Bahnwaggons

„Wasser, das ist unser Problem Nummer 1“, sagt auch Gärtner Victor. Jeden Morgen steuert er seinen betagten Fiat Duplo über holprige Straßen, um bei einem Geschäftsmann Wasser zu holen. Der hat einen Tiefbrunnen gebohrt und hilft ihnen, ihre Gärtnerei zu retten. „Die Gärtnerei ist unser ganzer Lebensunterhalt, viele der Pflanzen sind über Jahre gezogen. Verlieren wir sie, verlieren wir praktisch fast alles, was wir aufgebaut haben“, sagt Maya.

Rund 1000 Liter erhalten die Gärtner täglich. Damit kein Tropfen verloren geht, gießen sie sorgfältig per Hand mit der Gießkanne. Es ist harte Arbeit. Jetzt sind die Stoßdämpfer wegen der schweren morgendlichen Ladung hinüber, der 52-Jährige quält seinen Transporter trotzdem weiter über die Straßen.

1200 Tonnen Wasser werden täglich an 40 Stellen in die Stadt gebracht.
1200 Tonnen Wasser werden täglich an 40 Stellen in die Stadt gebracht.

© Till Mayer

Victor weiß gerade nicht, wie er die Reparatur bezahlen soll. „In Nikopol kauft kaum jemand Topfblumen, weil das Wässern ein Problem ist“, sagt er. „Aber an unserem Marktstand stehen so viele Leute wie sonst nie. Sie wollen einfach nur schauen.“ Ihre Pflanzen verkaufen sie bis in die Stadt Dnipro. So kommen die Gärtnersleute mit den Einnahmen gerade über die Runden.

Maya lächelt trotz allem. Ihr freundliches Gesicht ist von hellblonden Haaren eingerahmt. Sie gießt in der Gartenlaube neben den Gewächshäusern einen frischen Kräutertee auf. Ihr Mann lehnt mit ernstem Gesicht an der Holzwand. „Blumen und Pflanzen helfen bei Stress“, sagt Maya. Victor nickt. Stress durch den Krieg, den kennen die beiden. Das Artilleriegrummeln im Hintergrund zählen sie vermutlich schon gar nicht mehr dazu. Zumindest, wenn die Gefechte weit genug entfernt toben. So wie heute.

Aber das Schlimmste war, als unser Nachbar an der Front fiel. Es sind schon so viele Tote in diesem Krieg.

Victor, Gärtner in Nikopol

50 Meter entfernt von ihrer Gärtnerei mit dem kleinen Wohnhaus schlug vor einigen Monaten eine Granate ein. „Es gab einen furchtbaren Schlag, einige Splitter flogen bis in unser Grundstück. Zum Glück beschädigten sie die Gewächshäuser nicht“, berichtet Maya.

„Das war ein Schock“, pflichtet ihr Victor bei. „Aber das Schlimmste war, als unser Nachbar an der Front fiel. Es sind schon so viele Tote in diesem Krieg.“ Dann ist es kurz still in der Gartenlaube vor den Gewächshäusern.

Das Paar und ihr 29-jähriger Sohn haben wie alle in der Stadt schon einiges durchgemacht. Als im vergangenen Jahr der russische Beschuss auf Nikopol zunahm, campten sie wie so viele andere am Stadtrand, um den Einschlägen am Dnipro-Ufer zu entgehen. 20 Zivilisten kamen durch den russischen Beschuss auf die Stadt bisher ums Leben, 143 wurden verwundet. 4156 Häuser gelten in der Stadt und in der Umgebung als beschädigt, teilt die Stadtverwaltung mit.

Viele flohen vor den Kämpfen und wegen der Angst vor einem Unglück im Atomkraftwerk. Im Frühjahr kehrten viele der Geflüchteten nach Nikopol zurück. Heute sollen ungefähr 50.000 Menschen in der Stadt leben. Das ist ungefähr die Hälfte der Einwohner, die vor dem Beginn der groß angelegten russischen Invasion in Nikopol lebten.

Viele Geflüchtete sind mittlerweile wieder nach Nikopol zurückgekehrt.
Viele Geflüchtete sind mittlerweile wieder nach Nikopol zurückgekehrt.

© AFP/Anatolii Stepanov

Maya und Victor blieben, als Granaten auch auf dem Gelände des Meilers einschlugen. Vor der Besetzung durch russische Truppen galt Saporischschja als leistungsstärkstes Atomkraftwerk Europas. Es liegt in Sichtweite von Nikopol. Auf der anderen Seite des Flusses Dnipro.

Bedrückende Stille

Einen guten Blick auf das Atomkraftwerk hat man von der Bohdana Khmelnitskogo Straße. Dort stehen viele Häuser, die schon zwei Weltkriege überdauert haben. Einige von ihnen sind in den vergangenen Monaten durch Beschuss beschädigt worden. In Fensterrahmen sind Holzplatten genagelt, Druckwellen haben die Scheiben eingedrückt. Andere Gebäude weisen Einschläge in den Dächern auf. Das Ziegel-Mauerwerk zeigt Löcher, die Splitter verursacht haben.

Seit die Russen den Kachowka-Staudamm gesprengt haben, traue ich ihnen alles zu. Auch, dass sie das Kraftwerk in die Luft jagen.

Maya, Gärtnerin in Nikopol

Kaum jemand wohnt hier noch, es herrscht eine bedrückende Stille. Vor dem Flussufer zieht sich Stacheldraht. Seit dem 6. Juni, dem Tag als der Kachowka-Staudamm gesprengt wurde, beginnt dort aber nicht mehr der mächtige, angestaute Fluss, sondern eine braune Schlammschaft. Der Dnipro erinnert mehr an ein Rinnsal. Am anderen Ende flirrt grau die Silhouette des Atomkraftwerks.

Seit die Russen den Kachowka-Staudamm gesprengt haben, traue ich ihnen alles zu. Auch, dass sie das Kraftwerk in die Luft jagen“, sagt Maya in ihrer Gartenlaube. Schon seit Tschernobyl war für sie das AKW ein unheimlicher Nachbar. „Jetzt heißt es, die russischen Soldaten haben Minen im Kraftwerk angebracht. Wir alle hier haben Angst, dass etwas passiert.“

Experten der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) haben vor Kurzem am Rand des AKW-Geländes Antipersonenminen entdeckt.

Droht ein zweites Tschernobyl?“, titelten in Deutschland Medien, als es um das Atomkraftwerk Saporischschja ging. Dagegen spricht selbst bei einem schweren Unglück vieles, wie sich die meisten Experten einig sind. Im Gegensatz zu Tschernobyl besitzen die Reaktorblocks des AKW Saporischschja eine zusätzliche Schutzschicht. Die Ummantelung aus Stahlbeton hält auch Einschläge aus.

Blick über den Fluss auf das AKW Saporischschja.
Blick über den Fluss auf das AKW Saporischschja.

© Imago/Ukrinform/Dmytro Smolyenko

Von den sechs Reaktorblöcken läuft nur noch einer in sogenannter Warmabschaltung. Er erzeugt in einer Art Stand-by-Betrieb Strom für den Standort. Das bedeutet nicht, dass die Gefahr gebannt ist. Ist die Kernspaltung beendet, geben die Brennstäbe weiter radioaktive Strahlung ab, erzeugen eine enorme Hitze.

Laut der Atomenergiebehörde reicht jedoch der Kühlteich auf dem Gelände aus, um das Werk mehrere Monate zu sichern. Doch das Kühlwasser muss durch das Kraftwerk gepumpt werden. Dafür ist Strom notwendig. Immer wieder kam es zur Kappung der letzten funktionierenden Stromleitung. Im Notfall springen allerdings Diesel-Generatoren an.

Worst-Case-Szenario

Fallen auch diese aus, zum Beispiel durch technisches Versagen, fehlende Wartung oder Mangel an Kraftstoff, würde es zu einer Überhitzung kommen. In den Brennelementbecken verdunstet dann das kühlende Wasser. Die Brennelemente überhitzen, es folgt die Kernschmelze. Das wäre das Worst-Case-Szenario.

Ist auch Deutschland bedroht? Ein atomarer Unfall könnte eine erhöhte Strahlung in der Bundesrepublik mit sich bringen, aber in einem geringeren Ausmaß als bei dem Reaktorunglück von Tschernobyl. Das Bundesamt für Strahlenschutz teilt auf seiner Homepage mit: „Für Deutschland wären die radiologischen Auswirkungen einer Freisetzung in der Ukraine begrenzt. Im schlimmsten Fall, also nur bei einem erheblichen Austritt von Radioaktivität und einer Wetterlage, die Luftmassen von der Ukraine nach Deutschland verfrachtet, könnten hierzulande für die Landwirtschaft festgelegte Radioaktivitäts-Höchstwerte überschritten werden.“

100
Kilometer weit, müssten Einwohner bei einem AKW-Unglück evakuiert werden.

Auch wenn ein atomares Unglück geringer ausfallen würde als die Katastrophe von Tschernobyl: Es wäre eine neue Steigerung der Verwüstung, die der russische Angriffskrieg über die Ukraine bringt. In Teilen des Landes sind ganze Städte und Dörfer völlig zerstört, riesige Gebiete vermint.

Flussabwärts des zerstörten Staudamms räumen gerade die Menschen den Schlamm und Schutt aus ihren Häusern und Grundstücken, die Flut hat eine Schneise der Zerstörung geschlagen. Die Wassermassen tragen Schadstoffe, Minen und Tierkadaver mit sich.

Wenn ich eine Blume sehe, dann glaube ich daran, dass alles Böse besiegt werden kann.

Maya, Gärtnerin in Nikopol

Für die Menschen in Nikopol ist das nahe Atomkraftwerk dennoch eine reale Bedrohung, die ihnen ihre Heimat rauben kann. In Saporischschja lagert tonnenweise angereichertes Uran. Der Krieg bringt dort somit eine ganz andere Gefahrenlage.

Das Kraftwerk steht unter russischer Besatzung, das verbliebene ukrainische Personal steht unter einer extrem hohen psychischen Belastung. Kommt es zum Unglück, müssten die Einwohner im Umkreis von 50 bis 100 Kilometern evakuiert werden. Darauf bereitet sich auch die Stadt Nikopol vor, erklärt der Bürgermeister.

Maya und Victor lassen sich trotzdem ihre Träume nicht nehmen. Sie hoffen einfach, dass es gut ausgeht. Dass die Pumpen der Stadt wieder Wasser aus dem Dnipro ansaugen. Dass das Atomkraftwerk keinen Schaden nimmt. Dass die russischen Truppen auf der anderen Flussseite abziehen.

Nach dem Krieg will das Paar einen eigenen Blumenladen in der Stadt eröffnen. Jetzt müssen sie erst einmal ihre Pflanzen durch den Sommer bringen. „Wenn ich eine Blume sehe, dann glaube ich daran, dass alles Böse besiegt werden kann“, sagt die Gärtnerin zum Abschied.

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